Das Farbenprojekt Mins Minssen und Hermann Fischer gewidmet Autor: Thomas Seilnacht (erschienen in chimica didactica 2/3, 2000) mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Prof. Dr. Peter Buck |
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Die Entstehungsgeschichte des Farbenprojekts | |||||||||||||||||||||
Den
ersten Anstoß für die Beschäftigung mit Farbstoffen und
Pigmenten erhielt ich durch einen Film über „Sanfte Chemie“ der Firma
Auro Naturfarben in Braunschweig, der zugleich
ein Film über Hermann FISCHER ist, der als
Vorreiter einer Sanften Chemie gilt (FISCHER 1993).
Die Produkte der Sanften Chemie weisen günstige Ökobilanzen auf
und verwenden nachwachsende Rohstoffe auf der Basis einer nachhaltigen
Entwicklung. Dies gilt für die Auswahl, für die technische Verarbeitung
und für die Entsorgung von Stoffen.
Auro besitzt ein Patent auf
die Herstellung von Pigmenten aus Pflanzenfarbstoffen. In einer Versuchsreihe
im Schullabor versuchte ich, dieses industrielle Verfahren auf einen Schülerversuch
zu reduzieren; faszinierend ist dabei vor allem der Moment, wenn sich der
pflanzliche Farbstoff auf die Tonerdekristalle aufträgt: Die Flüssigkeit
bläht sich plötzlich auf und beginnt farbig zu schäumen;
die Entstehung des Pigments ist unmittelbar zu sehen. Das Ergebnis
spornte mich an, mich mit dem Thema intensiver zu befassen.
Auf der Suche nach Lieferquellen
für Pflanzenfarbstoffe (Krappwurzeln, Blauholz),
Pigmenten und Farbrohstoffen erhielt ich von
einem Restaurator die Adresse der Farbmühle Kremer
in Aichstetten. Mit ihr und Herrn Dr. Georg Kremer erschloss sich mir eine
üppige Quelle zum weiteren Experimentieren.
Am Anfang überlegte
ich mir, welche Herstellungs- und Verarbeitungsmethoden für den Chemieunterricht
relevant sein könnten. Nach vielen Versuchsreihen hatte ich schließlich
eine Reihe von Malfarben und Farbprodukten selbst hergestellt. Die von
mir hergestellten Aquarell- und Ölfarben konnten es mit den hochwertigen
Künstlerfarben aufnehmen. Das Färben von
Seidenschals mit Pflanzenfarbstoffen, wie zum Beispiel mit Krappwurzeln,
Blauholz, Curcumawurzeln oder Indigo bereitete
mir auch selbst großes Vergnügen, aber ich lernte von den Schülerinnen
und Schülern:
Im Laufe der Zeit zeigten
sie mir ausgefeilte Batiktechniken, die sie aus Volkshochschulkursen kannten.
Sie zauberten durch einfache Abbindetechniken zickzackförmige Schlangenlinien,
strahlende Sonnen, feine Farbschattierungen, raffinierte Überfärbungen
und transparente Farbverwaschungen auf die Seide.
Durch die Beschäftigung
mit der Caseintechnik, die schon die Römer
angewandt hatten, entwickelte ich eine Farbe, die im Handel bisher nicht
verfügbar ist. Casein ist ein aus Milch gewonnenes
Bindemittel, welches an der Luft aushärtet
und das Pigment dauerhaft und waschbeständig auf Untergründe
wie Papier, Holz oder Stein bindet. Die Caseinfarben zeigen eine Harmonie
und Farbintensität, die durch keine andere Farbe erreicht wird. Dabei
spielt die Auswahl der Pigmente eine entscheidende Rolle.
Ich begann, mit den klassischen Erd- und Mineralfarben zu experimentieren, da diese mit Ausnahme von cadmium- oder bleihaltigen Pigmentpulvern, relativ ungiftig sind. Ich testete etwa 40 verschiedene Pigmentsorten. Dabei ergab sich, dass sich die Verwendung von Pigmenten im Schulunterricht auf eine geringe Auswahl reduzieren ließ. Erstaunlicherweise lassen sich die mit den folgenden genannten Pigmenten hergestellten Malfarben ganz beliebig kombinieren und mischen, es wird immer eine Farbharmonie erreicht:
Diese Pigmente sind weitgehend
ungiftig und mit Ausnahme von Chromoxidgrün auch für die Herstellung
von Schminke geeignet.
Besonders aber die Geschichte
der Farbstoffe und Pigmente
faszinierte mich. Die Malerei mit Pigmenten ist ja eine wichtige Etappe
in der Menschheitsgeschichte. Drei Beispiele, die auch eine Rolle in meinem
Unterricht spielen, sollen dies andeuten:
Beispiel 1: Die ältesten bekannten Farbkunstwerke sind die Höhlenmalereien. Schon vor über 30.000 Jahren verwendeten die Künstler der Steinzeit Erdpigmente, welche mit Hilfe von Kalk und Wasser als Bindemittel auf die Höhlenwände aufgetragen wurden. Einen Höhepunkt stellte die Entdeckung der Grotte Chauvet im Vallon Pont d’Arc in Südfrankreich durch die Höhlenforscher CHAUVET, DESCHAMPS und HILLAIRE am 18. Dezember 1994 dar. Die für die Öffentlichkeit nicht zugängliche Höhle gilt als die älteste und bedeutendste Bilderhöhle. Im Inneren der Höhle befinden sich mehrere ausgedehnte Friese mit großflächigen und ausladenden Darstellungen von Tieren und Tiergruppen. Im Buch der genannten Höhlenforscher (Chauvet et alt. 1995) kann man die hohe künstlerische Qualität in Abstraktion und Bildgestaltung bewundern. Beispiel 2: Die Farbe Purpurrot wurde im Altertum aus den Purpurschnecken gewonnen. Für die Herstellung eines einzigen Gramms Purpur benötigte man 8000 Schnecken. Der Purpur im antiken Rom war wertvoller als Gold, deshalb durfte nur der Römische Kaiser Purpurgewänder tragen, die Senatoren mussten sich mit einem Purpurstreifen am Gewand begnügen. Ein anderes leuchtendes Rot wurde später aus Cochenille-Läusen gewonnen, wie es heute noch auf den Kanarischen Inseln üblich ist. Beispiel 3: Bis ins 19. Jahrhundert hinein verwendeten Künstler ein ultramarinblaues Pigment, welches aus dem in Afghanistan vorkommenden Edelstein Lapislazuli gewonnen wurde. Zur Herstellung dieses reinen, tiefblauen Pigmentes sind viele aufwendige und zeitraubende Arbeitsschritte notwendig, so dass auch heute noch ein Kilogramm „Fra-Angelico-Blau“ über 30000 DM kostet. Leider ist das Thema
Farbstoffe und Pigmente aus den Lehrplänen weitgehend verschwunden.
Die neuen Bildungspläne meines Bundeslandes sind jedoch inhaltlich
nicht mehr so stark gebunden, so dass das Thema als fächerverbindendes
Unterrichtsprojekt durchführbar ist. Das Herstellen
von Schminke, die Bemalung und die fotografische Selbstdarstellung
oder das Färben und Batiken von Baumwolle und
Seide sind nur einige wenige Beispiele dafür, was für Schüler
interessant sein kann.
Es war fast selbstverständlich,
dass die Beschäftigung mit den Farben nicht auf den Chemieunterricht
beschränkt bleiben konnte. Der Lehrer für das Fach Kunst an der
Schule ließ sich von den hergestellten Farben beeindrucken und stieg
in das Projekt mit ein. Somit war die Idee, im Chemieunterricht Farben
herzustellen und im Kunstunterricht weiterzuverarbeiten, verwirklicht.
Spätestens jetzt wurde meine Beschäftigung mit Farben zu einem Selbstläufer. Ich wurde immer häufiger von Schülern und Kollegen angesprochen. Jeder belieferte mich mit einem neuen, noch schöneren Buch oder mit einer begeisterten neuen Idee, so dass ich mich geradezu zwangsläufig immer mehr in das Thema vertiefte. Ein weiterer Höhepunkt in diesem Prozess zunehmender Einwurzelung in dem Gebiet der Farben und Farbstoffe war ein Besuch bei der Farbmühle Kremer, die noch nach alten Rezepten Pigmente für Restauratoren und Künstler herstellt. Im Sommer 1998 lernte ich schließlich Hermann FISCHER persönlich kennen. Auf der Wagenscheintagung im April 2000 an der Odenwaldschule in Oberhambach traf ich schließlich Mins MINSSEN, der den Begriff des „sinnlichen Stoffes“ prägte (MINSSEN 1986) und Hermann FISCHERS Gedanken sehr nahe kommt. „Man hat ihm [dem chemischen
Laborstoff] seine Form genommen, sie ihm ausgezogen, sie von ihm weg abstrahiert.
Gold ist kein Ring, Eisen keine Kette, Zucker kein Stück Kandis. Es
sind keine ganzen Stücke mehr da, sondern kleine Portionen farbloser
Lösungen in einer Pipette, ein paar Körnchen weißen Kristallpulvers
auf der Spitze eines Spatels. Da ist es nicht mehr weit bis zu dem Augenblick,
wo eine Lehrperson mit Kreide sechs Striche zu einem regelmäßigen
Sechseck aneinanderwinkelt und sagt: „Das ist Benzol.“ Der Stoff ist nun
endgültig mit seiner Formel identisch geworden, kreidig und papiern,
und vielleicht steckt mehr als nur ein Versprecher dahinter...“ (Minssen
1986, S. 17)
MINSSEN spricht aus,
was mir schon lange ein Problem war. Er überlegt sich, wie die „Dinge
aussahen, bevor sie einen Namen hatten. Wie roch und schmeckte Honig, bevor
er Honig hieß? Wie sah er aus? Was war Wasser, bevor man es H2O
nannte und was war es, bevor es überhaupt Wasser hieß?“ Er führt
eine Stelle aus BÜCHNERS „Lenz“ an,
„wo Lenz sich vom Pfarrer Oberlin erzählen lässt, ‘wie er einmal im Gebirge durch das Schauen in ein leeres, tiefes Bergwasser in eine Art von Somnambulismus versetzt worden sei. Lenz sagte, dass der Geist des Wassers über ihn gekommen sei, dass er dann etwas von seinem eigentümlichen Sein empfunden hätte. Er fuhr weiter fort, die einfachste, reinste Natur hinge am nächsten mit der elementarischen zusammen; je feiner der Mensch geistig fühlte und lebte, um so abgestumpfter würde dieser elementarische Sinn; er halte ihn nicht für einen hohen Zustand, er sei nicht selbständig genug, aber er meine, es müsse ein unendliches Wonnegefühl sein, so von dem eigentümlichen Leben jeder Form berührt zu werden, für Gesteine, Metalle, Wasser und Pflanzen eine Seele zu haben, so traumartig jedes Wesen in der Natur in sich aufzunehmen, wie die Blumen mit dem Zu- und Abnehmen des Mondes die Luft...“ (Minssen 1986, S. 22-23) Die Naturverbundenheit von BÜCHNERS Lenz entspricht auch der Stimmung, wie sie im anfangs zitierten, romantischen Gedicht von Hermann ALLMERS noch vorhanden ist. Das Blau heute ist jedoch ein „anderes Blau“ (in Anlehnung an ein Gedicht von Rolf-Dieter BRINKMANN). Dem romantischen, tief mit der Natur verbundenen Symbol der „blauen Blume“, die das Finden des eigenen Ichs im Antlitz gegenüber verkörperte, steht die Haltung des heutigen Menschen, die Natur zu zerstören, gegenüber. Hermann FISCHER spricht von der „Gewalt“, die die heutigen Naturwissenschaften den Stoffen antun. Nach seiner Einschätzung ist der Umgang mit den Stoffen nicht nur seiner Sinnlichkeit beraubt, sondern hat die Naturwissenschaft jegliche Achtung vor den Naturprozessen verloren: „Es sind alles Stoffe, die in der Natur entstehen, mit einer hohen ästhetischen Faszination. Entweder ganz auf der makroskopischen Ebene - wenn sie eine Wiese sehen und da geht der Wind darüber, diese Wellenbewegung, die da entsteht, das hat eine hohe Ästhetik - aber auch wenn sie auf der Mikroebene eine Grasähre angucken und die ganz genau mikroskopisch ansehen, dann sehen sie eine hohe Ordnung oder Struktur. Es ist dort keine mechanische Ordnung, sondern so etwas wie eine künstlerische Ordnung. Das sind diese Prinzipien, von denen ich ausgegangen bin, die immer wieder zu diesem Respekt, zu dieser Hochachtung, zu dieser Faszination, zu dieser Liebe diesen Naturprozessen gegenüber geführt hat. Ich denke, die "Verliebtheit" in diese Prozesse ist der Schlüssel. Sie wissen ja, wenn man in eine Person verliebt ist, erst dann ist man in der Lage, die ganze Vielfalt der Vorzüge - die man manchmal auch überbetont - in dieser Person zu erkennen. Und ich glaube, den Chemikern dieses Jahrhunderts hat häufig die Liebe zu diesen Naturprozessen gefehlt, und das hat ihnen früher den Weg zur Erkenntnis versperrt, dass man unglaublich viel von diesen Naturprozessen lernen kann.“ „Ich leite sie (die Idee
der Sanften Chemie) daher ab, dass eine bestimmte Aggressionstendenz im
Menschen dazu führt, dass er eine Naturwissenschaft kreiert hat, die
so gewaltsam geworden ist, sowohl in den Methoden als auch in ihren Auswirkungen.
Das ist ja eines dieser Konzepte die durchaus diskutierbar sind. Aber ich
meine, dass wenn man sich den Stoffen gegenüber hochmütig und
aggressiv verhält, dass dann so etwas wie eine immanente Aggressivität
auch in den Stoffen bleibt. Wenn ich mit Chlorgas auf Organika, auf organische
Moleküle losgehe, dann ist das ein aggressives Verhalten, oder im
chemischen Sinne ist das ein hoher Energie-Input, aber es bleibt in der
Signatur dieser Stoffe auch erhalten.“
Gesamtes Interviev mit Hermann Fischer Mit meinem Farbenprojekt
wollte ich Schülern und Schülerinnen die Möglichkeit schaffen,
den „Stoff“ Farbe (d.h. die verschiedenen Pigmente und Farbstoffe) wieder
sinnlich zu erleben. Sie stellten Pigmente her und lernten etwas über
ihre kulturhistorische Bedeutung. Sie färbten und batikten Seidentücher,
erfreuten sich an den Sonnen und Linien, die beim Auswickeln auftauchten,
erfuhren auch, dass das Färberhandwerk stets mit Schmutz und unangenehmen
Gerüchen verbunden ist. Sie berührten die selbst hergestellten
Pigmente, sie bemalten ihre Haut mit Schminke, sie rochen die Farbe, nahmen
sie mit Pinseln auf und malten sie auf die verschiedensten Untergründe.
Dabei merkten sie, dass jede Verarbeitungstechnik, jedes Pigment, jedes
Bindemittel und auch jeder Untergrund zu einem anderen Ergebnis führte:
Die gemalte Farbe, z.B. das Ultramarinblau,
besitzt in Verbindung mit dem Casein-Bindemittel eine "Struktur", es ist
lebendig, selbst wenn es monochrom aufgetragen wird.
Das tiefe Blau des reinen, unverfälschten Ultramarin-Pigments - nicht das Ultramarin gekaufter Farben - erweckt Sehnsüchte und verleitet zum Träumen. Die Farben selbst wirken emotional und ziehen den Betrachter oder den Künstler quasi in den „Stoff“ hinein. Sie lösen „geistige Prozesse“ aus. KANDINSKY, der diese Zusammenhänge genau studiert hat, schreibt: "Wenn man die Augen über eine mit Farben besetzte Palette gleiten lässt, so entstehen zwei Hauptresultate: 1. Es kommt eine rein
physische Wirkung zustande, d.h. das Auge selbst wird durch Schönheit
und andere Eigenschaften der Farbe bezaubert. Der Schauende empfindet ein
Gefühl von Befriedigung, Freude, wie ein Gastronom, wenn er einen
Leckerbissen im Munde hat. Oder es wird das Auge gereizt, wie der Gaumen
von einer pikanten Speise (...)
Nur die gewohnten Gegenstände
wirken bei einem mittelmäßig empfindlichen Menschen ganz oberflächlich.
Die aber, die uns zum ersten Mal begegnen, üben sofort einen seelischen
Eindruck auf uns aus. So empfindet die Welt das Kind, welchem jeder Gegenstand
neu ist. Es sieht das Licht, wird dadurch angezogen, will es fassen, verbrennt
sich den Finger und bekommt Angst und Respekt vor der Flamme. Dann lernt
es, dass das Licht außer feindlichen auch freundliche hat, dass es
die Dunkelheit verscheucht, den Tag verlängert, dass es wärmen,
kochen und lustiges Schauspiel bieten kann. Nach der Sammlung dieser Erfahrungen
ist die Bekanntschaft mit dem Lichte gemacht, und die Kenntnisse über
dasselbe im Gehirn aufgespeichert. Das stark intensive Interesse verschwindet,
und die Eigenschaft der Flamme, ein Schauspiel zu bieten, kämpft mit
voller Gleichgültigkeit gegen sie. Allmählich wird auf diesem
Wege die Welt entzaubert. Man weiß, dass Bäume Schatten geben,
dass Pferde schnell laufen können und Automobile noch schneller, dass
Hunde beißen, dass der Mond weit ist, dass der Mensch im Spiegel
kein echter ist.
Und nur bei einer höheren
Entwicklung des Menschen erweitert sich immer der Kreis derjenigen Eigenschaften,
welche verschiedene Gegenstände und Wesen in sich einschließen.
Bei hoher Entwicklung bekommen diese Gegenstände und Wesen inneren
Wert und schließlich inneren Klang. Ebenso ist es mit der Farbe,
die bei niedrigem Stand der seelischen Empfindsamkeit nur eine oberflächliche
Wirkung verursachen kann, eine Wirkung, bald nach beendigtem Reiz verschwindet.
Aber auch in diesem Zustand ist diese einfachste Wirkung verschiedener
Art. Das Auge wird mehr und stärker von den helleren Farben angezogen
und noch mehr und noch stärker von den helleren, wärmeren: Zinnoberrot
zieht an und reizt, wie die Flamme, welche vom Menschen immer begierig
angesehen wird. Das grelle Zitronengelb tut dem Auge nach längerer
Zeit weh, wie dem Ohr eine hochklingende Trompete. Das Auge wird unruhig,
hält den Anblick nicht lange aus und sucht Vertiefung und Ruhe in
Blau oder Grün. Bei höherer Entwicklung aber entspringt dieser
elementaren Wirkung eine tiefergehende, die eine Gemütserschütterung
verursacht. In diesem Falle ist
2. das zweite Hauptresultat
des Beobachtens der Farbe vorhanden, d. h. die psychische Wirkung derselben.
Hier kommt die psychische Kraft der Farbe zutage, welche eine seelische
Vibration hervorruft. Und die erste, elementare physische Kraft wird nun
zur Bahn, auf welcher die Farbe die Seele erreicht." (Kandinsky, 1952,
S. 59-61)
Vielleicht fühlen
die Schülerinnen und Schüler diese „seelische Vibration“,
von der KANDINSKY spricht, ist, wenn sie an einem Bild bis zu 50 Stunden
vertieft arbeiten und hinterher von einem „erquickenden Erlebnis“ sprechen.
Das Farbenprojekt ist
im Laufe der Zeit aufgrund seiner Anziehungskraft zu einer festen Institution
an der Realschule Mühlheim geworden. Die Fächer Chemie und Kunst
werden nicht nur fächerverbindend, sondern fast nahtlos ineinander
übergehend unterrichtet. Für Projekte lasse ich die Schülerinnen
und Schüler einen Ordner als naturwissenschaftliche, künstlerische
Dokumentation anfertigen, den sie am Ende des Schuljahres abgeben. Auf
Klassenarbeiten verzichte ich im Rahmen des Farbenprojekts (es erstreckt
sich über ein halbes Schulhalbjahr!) ganz! Aber für das Anlegen
des Ordners verwende ich einen Kriterienkatalog, den meine Schüler
kennen, und den sie auf meine Homepage im Internet abrufen können.
Solche Dokumentationen werden generell in Gruppenarbeit erstellt und umfassen
oft mehr als 100 Seiten.
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2. Pädagogische Wurzeln |
Pädagogische
Gesichtspunkte habe ich bei dieser Erzählung bislang ausser Acht gelassen.
Sie spielten und spielen aber ebenfalls ein zentrale Rolle. Es mag sich
ja bei dem hier beschriebenen Projekt nicht um Projektunterricht im strengen
Sinn handeln, wie FREY oder GUDJONS ihn definieren. Mit ihm hat "mein"
Projekt jedoch einige grundlegende Annahmen gemeinsam, die letztlich auf
John DEWEYs Erziehungsphilosophie zurückgehen. Ich habe DEWEY so verstanden,
dass nicht die Erziehungsziele der Erwachsenen der Motor für die Entwicklung
der Kinder sind, sondern die Erfahrung des Kindes im Tun mit den Dingen.
Aus ihr heraus entwickeln sich neue Erkenntnisse. DEWEY meint, dass Inhalt
und Methode nicht getrennt werden dürfen. Er nennt seine Methode auch
die „Methode der bildenden Erfahrung“ und schlägt folgende
Vorgehensweise vor:
a) Auswählen einer Sachlage, die für den Schüler ein Problem darstellt b) Entwicklung eines gemeinsamen Planes zur Lösung c) Ausprobieren von Lösungen d) Praktische Überprüfung in der Wirklichkeit Erst mit d) ist nach DEWEY
ein Denkakt abgeschlossen (vgl. HÄNSEL 1988). Daher nennt er seine
Methode auch den „vollständigen Denkakt“. Wirkliche Erfahrung
könne sich auch nur aus dem täglichen Leben ergeben, sagt er
und müsse zu einer Veränderung und Gestaltung von Schule und
Gesellschaft führen.
Eine zweite, wesentliche
Anregungsquelle in diesem Unterricht stellte Martin WAGENSCHEIN
dar, dessen Kerngedanken mir implizit und explizit in der Zusammenarbeit
mit Peter BUCK vermittelt wurden. DEWEY und WAGENSCHEIN ergänzen einander:
Ein Projekt, das sich an der Lebenswelt der Schüler und an gesellschaftlich wichtige Fragestellungen orientiert, besitzt exemplarischen Charakter, wenn der Schüler wesentliche, exemplarische Erfahrungen macht und lernt, Lernwege selbst zu entwickeln und zu strukturieren. Dann erwacht im Inneren der Wunsch, sich auf eine "tiefen" Auseinandersetzung mit einer Sache einzulassen oder ein Problem konsequent zu verfolgen. Wagenschein nennt dies das genetische Lernen. Auch in meinem Projekt, so praktisch es ja veranlagt ist, bekommt das Gespräch eine zentrale Rolle. Und nicht von ungefähr scheint mir WAGENSCHEIN auf die notwendige Sokratik solcher Gespräche hinzuweisen, eine Haltung, die vor allem der Lehrer bewusst handhaben muss. Bei Jost GAARDER in seinem Roman Sofies Welt lese ich: Sokrates „vermittelte
den Eindruck, selber von seinem Gesprächspartner lernen zu wollen.
Er unterrichtete also nicht wie irgendein Schullehrer. Nein, er führte
Gespräche. (...) Aber vor allem zu Anfang stellte er nur Fragen.“
(Gaarder 1993, S. 82)
Nach meiner Erfahrung muss hierfür eine Reflexion über den eigenen Lernprozess stattfinden. Erst das Bewusstmachen der erworbenen Erkenntnisse und Fähigkeiten im monologischen (oder dialogischen) Diskurs führt schließlich zu einer Art „Transparenz des eigenen Ichs“, die für eine sokratische Gesprächsführung erforderlich ist. Eine dritte Quelle wesentlicher
Anregungen ergab sich aus Gesprächen mit Markus MÜLLER, der einen
ganz neuen Gesichtspunkt in die Diskussion um den Chemieunterrich einbrachte,
die Forderung nach Erziehung im Fachunterricht (MÜLLER 1997). Auch
meine Erfahrung war: Im „herkömmlichen“ Unterricht bekommt der Schüler
eine Rückmeldung über seinen Lernerfolg vor allem über die
Note. Sein Urteil über sich bleibt meist fremdgesteuert; er hat sich
in die Abhängigkeit des Beurteilenden gestellt. Dies führt zu
einer mehr oder weniger starken Verkümmerung der eigenen Urteilsfähigkeit.
Dadurch blockiert die heutige Schule mehr Fähigkeiten im Menschen
als dass sie welche entwickelt (vgl. KUPFFER, HOLZKAMP u.a.). Vor allem
fördert sie unsoziales Verhalten, denn die fehlende Reflexionsfähigkeit
führt zu einer Instabilität des Ich-Bewusstseins und blockiert
damit soziales Lernen (MÜLLER, 1995). Mängel in der Sozial- und
Ichkompetenz sind unausweichlich und nicht ohne Grund werden heute Qualifikationen
wie Argumentations- und Kooperationsfähigkeit oder die Fähigkeit
zu vernetztem Denken expressis verbis eingefordert. Das Defizit an Reflexionsfähigkeit
müsste durch Gespräche in Form von praktischem Diskurs eingeübt
werden, wenn es in Zukunft nicht noch stärker zu massiven Problemen
im Zusammenleben in Schule und Gesellschaft kommen soll.
Zusammenfassend könnte
man mein Farbenprojekt durch folgende, mir wesentlich erscheinende Merkmale
charakterisieren; ich werde diese Merkmale im nächsten Abschnitt näher
erläutern:
1. Das Thema (bzw. das Projekt) erwächst aus einem sinnlichen Phänomen, das Staunen hervorruft, von dem man sich angesprochen fühlt, das zugleich eine Fragehaltung erzeugt. 2. Lehrer und Schüler wählen gemeinsam Themeninhalte aus und erstellen eine gemeinsame Planung. 3. Die Auswahl der Themeninhalte orientiert sich ebenso an der Lebenserfahrung der Schüler wie an gesellschaftlich oder historisch wichtigen Fragestellungen. 4. Das Arbeiten erfolgt fächerverbindend vernetzt im herkömmlichen Unterricht über einen längeren Zeitraum. 5. Der Unterricht ermöglicht Kooperation und den praktischen Diskurs. 6. Der Unterricht, bzw. das Projekt wirkt über den bloßen Schulunterricht hinaus. Er hat Auswirkungen auf das Lehrerkollegium, das Schulhaus, die Schüler, das Elternhaus und auf die Gemeinde. 7. Produktziele stehen im Vordergrund. 8. Werden stoffliche Produkte hergestellt, muss ihr genetischer Entstehungsprozess, d.h. die Entstehung vom Rohstoff bis zum Endprodukt nachvollziehbar sein. 9. Das Lernen findet auf ganzheitlichem Weg statt. 10. Der Unterricht, bzw. das Projekt, ermöglicht eine Reflexion über eigene Erfahrungen. Schüler und Lehrer reflektieren über ihr Verhalten und über ihren Lernprozess. |
3. Pädagogische und didaktische Erläuterungen | |||
3.1 Sinnliche
Phänomene zum Staunen
Ein Ausgangspunkt lautet:
Wer emotional betroffen ist und gleichzeitig Probleme erkennt, ist zum
Lernen motiviert. Das Anfangsphänomen oder -problem muss dabei sorgfältig
gewählt werden. Das Phänomen oder Problem muss also nicht allein
mit äußeren Reizen der unmittelbaren Sinneserfahrung des Hörens,
Sehens, Tastens und Fühlens verbunden sein, das Phänomen oder
Problem muss auch die inneren Bedürfnisse der Schüler aus- und
ihre unmittelbarer Erlebnis- und Erfahrungswelt ansprechen.
Als Einstieg für
das Projekt „Farben“ eignen sich in diesem Sinne zum Beispiel durchaus
verschiedenartige Impulse oder Möglichkeiten:
b) Aktuelle Probleme des Umweltschutzes können in das Thema Farben einführen. Da diese Problematik die Zukunft der Jugendlichen unmittelbar betrifft, ist sie mit einem hohen Affektgehalt beladen. Geeignet sind zum Beispiel die Untersuchung von Lebensmitteln auf Farbstoffe mit der Dünnschichtchromatographie und eine Diskussion über die Wirkung und Notwendigkeit der Farbstoffe, oder die Erstellung von Ökobilanzen von modernen Textilfarbstoffen im Vergleich zu Pflanzenfarbstoffen. Bei einem solchen Einstieg wird eine ganz andere Stimmung aufkommen als bei a). c) Ich habe mich immer wieder auch auf das zurückgezogen, was BUCK die "engagierte Einseitigkeit" nennt, habe die Schülerinnen und Schüler mit meiner eigenen Faszination mitgerissen, die ich zur Geschichte der Farben und Farbstoffe entwickelt habe. Dabei sprach die Schülerinnen und Schüler durchaus an, dass die historischen Gewinnungsmethoden aus tierischen und pflanzlichen Rohstoffen so verblüffend einfach sind. Besonders aber die Bilder der Höhlenmalereien berührten das ästhetische Bewusstsein von Jugendlichen. 3.2 Gemeinsame Planung Nach Karl FREY geht die
Initiative für ein Projekt im Idealfall von den Schülern aus
(FREY 1990). In meinem Projekt war dieses Merkmal nicht gegeben. Gleichwohl
hat die offene Ausgangslage, bzw. eine gemeinsame Planung die Schülerinnen
und Schüler in die Verantwortung der Unterrichtsplanung eingebunden.
Wie weit ein Lehrer oder eine Lehrerin die Verantwortung abgeben, hängt
im Übrigen ja auch von der Lehrerpersönlichkeit ab. Auf jeden
Fall sollte im Vorfeld transparent werden, wo die Lehrerperson Grenzen
setzen wird.
Die Projektskizze und
die Projektplanung erfordern Zeit, die verfügbar sein muss. In der
Projektskizze legen die Beteiligten fest, was in etwa getan werden soll
und welche Vereinbarungen über den Umgang miteinander getroffen werden
sollen. Hilfreich sind hier zum Beispiel die acht Regeln von GATZEMEIER
(FREY, 1990, S. 85 f) oder Techniken und Grundsätze der Themenzentrierten
Interaktion (TZI) von Ruth COHN. (FREY, 1990, S. 92 f; COHN, 1975 und LÖHMER/STANDHARDT,
1992). Dabei müssen die Erwartungen von Schülern und Lehrern
auch wirklich geäußert werden. Und zu ihnen gehören auch
von Lehrern geforderte Pflichtanforderungen, etwa die Anlage eines Arbeitsheftes.
Wichtig ist, dass die Lehrer Beurteilungskriterien transparent machen,
falls das Projekt benotet wird. (Dies ist ein kritischer Punkt, da die
Ergebnisse eines Projekts eigentlich nicht in einer Note ausgedrückt
werden können.)
Zur gemeinsamen Auswahl
der Themeninhalte im Einzelnen sind mehrere Möglichkeiten denkbar.
In Form eines Brainstormings können die Schüler äußern,
was sie am Thema „Farbstoffe und Pigmente“ besonders interessieren würde.
Eine Auswahlliste kann den Schülern zur Erleichterung der Themenfindung
vorgelegt werden. Ich habe meinen Schülerinnen und Schülern zum
Beispiel die Unterrichtseinheiten aufgelistet, wie sie auf meiner Homepage
beschrieben sind. Da ist es willkommen, dass die Schüler eigene Vorschläge
vorbringen, die die Liste bereichern. Bereits jeder Beginn eines
Projekts stellt übrigens eine problemorientierte Situation dar, denn
Lehrer und Schüler wissen nie genau, was auf sie zukommt. Dies ist
besonders für die Lehrkräfte vielleicht zuerst ein riskanter
Schritt, den sie aber gehen müssen, wenn sie zu einer Erweiterung
ihrer Methodenkompetenz gelangen wollen. Mit einem Zitat einer Schülerin
möchte ich allen Lehrerinnen und Lehrer Mut machen, diesen Schritt
zu wagen. Kathrin schreibt in ihrem Abschlussbericht ihres Berichtsheftes
über das Farbenprojekt (damals „Farbstoffprojekt“):
„Jetzt am Ende des Schuljahres
und somit auch am Ende des Farbstoffprojekts, ist das erste, was mir spontan
dazu einfällt, dass dieses Projekt ein besonderes war, und dass sicherlich
nicht jeder die Gelegenheit hat, bei so etwas mitzumachen.Ich habe während
des Projekts viel erfahren und gelernt, was ich sonst wahrscheinlich überhaupt
nicht richtig wahrgenommen hätte. Zum Beispiel hätte ich nie
erfahren, wie die Römer früher ihre Häuser angestrichen
haben und welches Mittel sie benutzt haben um die Farbe wasserbeständig
und abriebfest zu machen. Oder hätte ich mich jemals für die
Höhlenmalerei interessiert? Das alles sind zwar nur Kleinigkeiten,
aber sehr interessant.
Außerdem war mit
diesem Projekt auch viel Spaß und Freude verbunden. Ich habe gemerkt,
dass Schule auch Spaß machen kann. Das liegt wahrscheinlich daran,
dass man nicht unter einem so großen Leistungsdruck steht und trotzdem
lernt. Es hat mir gefallen, dass man auch viel kreativ gearbeitet hat und
nicht nur still dasitzen und dem Lehrer zuhören musste. Man hatte
sozusagen Spaß am Lernen. Toll fand ich auch, dass
uns die Lehrer nicht genau vorgeschrieben haben, was wir zu tun haben.
Sie haben uns einen gewissen Freiraum gelassen, wenn es darum ging wie
wir mit den Farben experimentierten. Außerdem hatten wir genügend
Zeit, um in Ruhe mit den Farben zu arbeiten und standen deshalb nicht unter
Zeitdruck.
Ich glaube, dass das Projekt
unserer Klassengemeinschaft auch gut getan hat, weil eigentlich nie jemand
alleine arbeiten musste. Das Ganze war immer mit Partnerarbeit verbunden.
Und wir waren sozusagen gezwungen, aufeinander Rücksicht zu nehmen.
Obwohl dies alles eigentlich gut funktioniert hat, gab es immer wieder
einige, die sich am Schluss vor den Aufräumarbeiten gedrückt
haben. Das fand ich eigentlich sehr schade. Obwohl mir das viele Malen
und das Experimentieren, die „extra Mittagsschule“, und das ewige Protokollschreiben
auch oft auf die Nerven ging, wäre ich immer wieder bereit, ein solches
Projekt mitzumachen. Und ich bin der Meinung, dass so etwas auch in anderen
Fächern gemacht werden könnte, und so eine Schule entstehen würde,
in die wir gerne hinein gingen und von der nicht nur negativ gesprochen
wird.“
3.3 Themeninhalte
Wenn Interesse an einem
Thema nur aufwachen kann, sofern die Reize von aussen die inneren Bedürfnisse
der Jugendlichen ansprechen, wird das Thema Farben, wie es bisher in den
üblichen Lehrbüchern für den Chemieunterricht vermittelt
wird, Jugendliche wahrscheinlich nur wenig ansprechen. Die Herstellung
und Färbung mit einem modernen Textilfarbstoff ist so kompliziert,
dass ein durchschnittlicher Schüler die Prozesse nicht mehr nachvollziehen
kann. Natürlich spielen Textilfarbstoffe (oder Farben für Autolacke,
usw.) im täglichen Leben eine große Rolle, wobei die Auswahl
der Farben beim Kauf eines Produktes heute nach der gängigen Mode
und nach den Gesetzen der Werbung erfolgt und weniger nach ästhetischen
oder ökologischen Gesichtspunkten. Bei den von mir eingesetzten Farben
ist dies anders. Die Schülerinnen und Schüler können die
Farbenprodukte selbst herstellen und weiterverarbeiten und können
diese Prozesse womöglich auch noch zu Hause mit einfachen Mitteln
durchführen.
Vor allem aber liegen
die Akzente jenseits der Chemie bei mir anders: Das Bewusstmachen der psychologischen
Wirkung von Farben und der Möglichkeiten von Manipulation ist es,
was den Jugendlichen berührt, denn er kann dabei verborgene Schichten
seiner Persönlichkeit entdecken. Für den Jugendlichen dieser
Altersstufe ist das wichtiger, als eine Einübung in unsere Wirtschafts-
und Lebensweise.
Die Entdeckung, dass man
Gekauftes auch selbst und dazu noch von vergleichbarer oder besserer Qualität
herstellen kann wertet das Selbstwertgefühl der Jugendlichen auf.
Die Herstellung von Schminke oder von Kreide ist daher alles andere als
Kochrezept-Chemie, wie es manchmal unterstellt wird. Sie hat für den
Schüler eine unmittelbare Lebensbeziehung und einen Lebenszweck. Die
Schülerin Pamela schrieb dazu in ihrem Bericht:
„Ich glaube, dieses Projekt
ist bei allen super angekommen und war für alle bestimmt sehr interessant.
Man konnte bei diesem Projekt viel dazu lernen. Ich selber fand es interessant,
wie man die einzelnen Dinge herstellen kann. Denn meistens kauft man solche
Aquarellfarben oder das Ostereier-Färbemittel lieber fertig und hat
nachher nicht so viel Arbeit damit. Ich glaube, es ist heutzutage jeder
zu faul dazu, etwas selber herzustellen. Sowieso, warum soll ich das selber
machen, wenn es in Läden und Geschäften zu kaufen gibt und es
auch noch viel preiswerter ist?“
Das Beziehungsdenken verwurzelt
den Schüler mit der Welt der Stoffe. In dieses Denken sind auch gesellschaftliche
Fragestellungen vernetzt, etwa: „Sind die Inhaltsstoffe von Schminke schädlich?“
Von selbst ergibt sich die fächerverbindende Vernetzung:
3.4 Fächerverbindende Vernetzung Der fächerverbindende Unterricht kann nur den Anspruch als solchen erheben, wenn verschiedene Fächer fachlich und methodisch über einen längeren Zeitraum als „ein Fach“ unterrichtet werden. Für die ursprünglichen Fächer ergeben sich daraus mehrere Konsequenzen: a) Die Unterrichtsstunden sind nicht mehr einem Fach eindeutig zuzuordnen. b) Alle beteiligten Lehrer
planen und unterrichten gemeinsam in der Klasse. Dabei kann ein Lehrer
durchaus die Federführung, ausgehend von seinem ursprünglichen
Schwerpunktfach, übernehmen. Das hier vorgestellte Projekt geht zum
Beispiel vom Fach Chemie aus.
c) Müssen Fachnoten
hinterher gemacht werden, erhalten die Schüler eine Gesamtnote, die
für alle beteiligten Fächer identisch ist. Möglich wäre
auch die Ausstellung eines Testates.
Wird dieses fächerverbindende
Prinzip konsequent durchgeführt, sind die Schüler nach meinen
Erfahrungen mit höchster Motivation dabei, da der „Ernstcharakter“
wesentlich gesteigert wird.
Bei der Durchführung
des Farbenprojekts machte ich sehr gute Erfahrungen mit dem fächerverbindenden
Prinzip. Die Fächer Chemie und Kunst wurden zusammengelegt, aus ihrem
Deputat bildete ich einen „Stundenpool“ und unterrichtete nun nicht mehr
nach Fach, sondern nach Einheit. Auch für mich als Fachlehrer ist
ein solches Vorgehen heilsam: Als Chemielehrer habe ich Einblicke in das
Fach Kunst bekommen, so dass ich das Fach inzwischen gerne als fachfremder
Lehrer unterrichte.
Die inhaltliche Ordnung
nach Fächern wird ersetzt durch eine Ordnung, die einem Thema sachadäquat
ist: Ich gebe den Schülern die selbständige Anlage eines Berichtsheftes
als Aufgabe vor, in dem sie sämtliche Unterrichtseinheiten des Projekts
schriftlich und fotografisch dokumentieren sollen. Das Ergebnis des fächerverbindenden
Projekts, welches über ein halbes Schuljahr dauert, ist schließlich
ein dicker Ordner jedes Schülers und jeder Schülerin mit durchschnittlich
120 Seiten. Man muss sich allerdings daran gewöhnen, dass viele Schüler
mit dem Fotoapparat oder mit der Videokamera in die Unterrichtsstunden
anrücken. Die Ordner mit den vielen Quellen, welche die Schüler
aus Zeitschriften und Büchern herantragen, stellen für das folgende
Farbenprojekt selbst eine ergiebige Quelle dar.
3.5 Das Projekt ermöglicht Kooperation und dialogischen Diskurs Außer den bisher
geschilderten Möglichkeiten zum kooperativen Arbeiten konnten in meinem
projektorientierten Unterricht regelmäßig Fixpunkte in Form
von Gesprächsrunden stattfinden, in denen Lehrer und Schüler
gemeinsam über das bisherige Projekt reflektierten. Hierbei kamen
folgende Gesichtspunkte zur Sprache:
Zur Unterstützung der
kooperative Arbeitsform ist Gruppenunterricht zu empfehlen, bei dem die
Arbeitsgruppen über das ganze Projekt bestehen bleiben können.
Berichte dürfen gemeinsam erstellt werden. Solche Gruppenarbeit bietet
sich auch bei den Schülerversuchen an.
Darüber hinaus kann
gruppenweise arbeitsteilig oder arbeitsgleich gearbeitet werden. Bei der
arbeitsteiligen Form nehmen sich verschiedene Gruppen unterschiedliche
Aufgaben vor. Während die eine Gruppe Färbepflanzen im Schulgarten
anlegt, gestaltet eine andere Gruppe das Schulhaus mit Caseinfarben. Sind
die Schüler jedoch einen solchen offenen Unterricht nicht gewöhnt,
ist anfangs eine arbeitsgleiche Form empfehlenswert, auch wenn die Arbeitsteilung
mehr soziale Abstimmung erfordert und daher eher die weniger effektive
Lernform ist.
Ein Projekt in dieser
Art erfordert auch die Kooperation zwischen den anderen Lehrern der Schule/der
Klasse oder zwischen den Lehrern und Eltern. Aus diesem Grunde ist eine
sehr frühzeitige Planung notwendig. Günstig ist es, wenn die
Planung bereits im vorangehenden Schuljahr begonnen wird, damit die Stundenpläne
auf das Projekt abgestimmt werden können. Ich habe gute Erfahrungen
mit flexiblen Stundenblöcken gemacht. Ein Lehrer unterrichtet beispielsweise
für drei Stunden in einer Klasse, während die Kollegin die Parallelklasse,
in der das Projekt ebenfalls läuft, gleichzeitig unterrichtet. Damit
ergibt sich die Möglichkeit, für bestimmte Unterrichtseinheiten
- z.B. für das Schminken oder für die Herstellung von Gipsmasken
- beide Klassen zusammenzulegen.
Soziales Lernen wird
unterstützt, wenn die Schüler und Schülerinnen immer wieder
in Situationen gebracht werden, in denen sie den Umgang miteinander neu
festlegen müssen. Dabei ist es wenig hilfreich, wenn der Lehrer oder
die Lehrerin bei auftretenden Problemen, die Fäden zur Lösung
des Problemes selbst in die Hand nimmt. Unter der Berücksichtigung
von Ruth COHNS TZI-Grundsatz „Störungen haben Vorrang“ müssen
die Schüler Gelegenheit erhalten,
3.6 Der Unterricht wirkt über den Unterricht hinaus Das Farbenprojekt bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Schule nach außen zu öffnen; Beispiele:
Aber die Schule sollte sich
nicht nur nach außen öffnen, sondern auch nach innen. Dabei
nimmt die Gestaltung der Innenräume einen wesentlichen Anteil ein.
„Zu einem Schulraum stellt
sich eine Beziehung her, wenn in ihm Einrichtungsgegenstände vorhanden
sind, die von Kindern hergestellt wurden (...) Das
Einrichten kann über den Klassenraum hinaus das Schulgebäude
und selbst das Schulgrundstück einbeziehen.“ (MUTH in ULLRICH, 1991,
S. 138)
Leere oder sterile Betonwände,
aber auch „zur Architektur passende“, von mehr oder minder innerlich unbeteiligten
Malern angefertigte Farbgebungen zerstören die Identifikation mit
der Lernumgebung und verhindern tiefergreifende Lernprozesse. Schüler
und Schülerinnen sollen sich aber doch beim Lernen wohl fühlen.
Die Schüler müssen also an der Gestaltung ihrer Umgebung mit
einbezogen werden. Sie sollen zudem ja auch erkennen, dass sie die Wirklichkeit
selbst verändern können. Von selbst wird dann die Schule zu einem
Ort der Zukunft, der die Schüler anspricht.
3.7 Produktziele stehen im Vordergrund Wer ein Produktziel vor
Augen hat, ist besonders motiviert, das Ziel zu erreichen. Er entwickelt
Ehrgeiz und setzt alles daran, seine Arbeit so gut wie möglich zu
machen. Bei der Durchführung des Projekts ging dies in einer Klasse
soweit, dass viele Schüler und Schülerinnen fast zwei Wochen
lang jeden Mittag freiwillig anrückten, um die Gestaltung des Bushäuschen
und die Vorbereitungen für die nahende Ausstellung im Schloss der
Gemeinde voranzutreiben.
Die Produktorientierung
ermöglicht im nachhinein eine Rückbesinnung über das Ergebnis
der vorangegangenen Arbeit. Außerdem ist das Produkt etwas Beständiges,
das vielleicht noch viele Jahre aufgehoben wird, und sei es nur in den
Köpfen. Erst wenn der Unterricht zeitlich über das Unterrichtsprojekt
hinaus weiterwirkt, wird eine Veränderung der Schule und der Gesellschaft
im Sinne DEWEYS erreicht.
3.8 Genetischer Entstehungsprozess In unserer Gesellschaft
überwiegt heute die Erfahrung aus zweiter oder dritter Hand. Die „hochkultivierten
Gegenstände“ sind in der Zwischenzeit so kompliziert, dass das Innenleben
für den Benutzer unverständlich bleibt . Pamelas Zitat im Abschnitt
3.3 verdeutlicht das Dilemma. Farben sind nur noch käufliche Produkte,
deren Herstellungsprozess und Komponenten nicht relevant sind. Wer die
wesentlichen Eigenarten eines Produktes, eines Stoffes oder eines Dinges
nicht kennt, für den verschwindt auch eine elementare und ursprüngliche
Erfahrung. Hartmut VON HENTIG verdeutlicht dies am Beispiel eines Thermometers:
„Ein altes gläsernes
Thermometer erklärte sich dem Beobachtenden gleichsam selbst. Eine
Substanz, Quecksilber oder gefärbter Weingeist, dehnt sich bei zunehmender
Temperatur in einer Kapillarröhre aus; an einer Skala, die Maß
an der Wirklichkeit genommen hat - am kochenden oder gefrierenden Wasser
bei bestimmtem Luftdruck -, lässt sich der Grad der Erwärmung
ablesen. Heute besteht ein Thermometer aus einem metallenen Sensor und
einer Plastikbox, auf deren kleiner Scheibe Digitalziffern flimmern „17,08“
- und eine unanschauliche, maßstabslose, magische Auskunft, eines
von vielen tausend Gehäusegeräten, mit denen wir umgehen." (VON
HENTIG 1984, S. 40)
Der Verlust der Einsicht
in die Wesensart der Dinge führt zu einer Entfremdung des Menschen
von der Natur und von sich selbst. Ursprüngliches Verstehen findet
dann immer weniger statt, stattdessen überwiegt der Glauben an eine
medial vorgefertigte Welt, in der die Menschen zu Handlungsstatisten des
Medienapparates werden. Meinungen werden nicht mehr entwickelt, sondern
gemacht und bestätigt. Aus diesem Grunde ist es notwendig, dass die
Schule elementare Grunderfahrungen in einem ganzheitlichen Verständnis
vermittelt und sich bewusst einer solchen Verfremdung der Wirklichkeit
entgegenstellt.
Dem versuchte ich entgegenzuwirken,
indem ich folgende Regeln zur „Wirklichkeitsfindung“ der beteiligten Stoffe
aufstellte:
a) Sämtliche Farben, welche verarbeitet werden, müssen selbst aus den Rohstoffen hergestellt werden. b) Auch die Herstellung
der Inhaltskomponenten muss transparent gemacht werden.
c) Alle am Produktionsprozess
beteiligten Stoffe müssen toxikologisch beurteilt und in Form einer
Ökobilanz zusammengestellt werden.
3.9 Das Lernen findet auf ganzheitlichem Wege statt Es ist üblich bei
"ganzheitlichem Lernen" auf PESTALOZZIs "Kopf, Herz und Hand"-Formel zu
verweisen. Und natürlich führt erst eine konsequente Beachtung
dieser Dreiheit und der Beziehung zwischen den drei Begriffen untereinander
zu einem ganzheitlichen Menschen, in dem alle seine Fähigkeiten zur
Entfaltung gekommen sind. Ich wähle aber einen anderen Weg zur Annäherung
an das Ganzheitsprinzip:
Nach der These von Markus
MÜLLER (1995, S. 18 f), der die Person in Anlehnung an SCHELER als
Synthese aus Rationalität, Emotionalität und Moralität begreift,
muss die Emotionalität rational durchdrungen werden, damit sie zu
moralischem Handeln führt. Über MÜLLER hinausgehend möchte
ich aber fordern, dass auch umgekehrt die Ratio von Gefühlen gesteuert
werden muss, damit vernünftige und zugleich humane Entscheidungen
getroffen werden können. Das Denken, die Gefühle und das moralische
Handeln bedingen sich gegenseitig und sind eng miteinander verknüpft.
Mit MÜLLER teile ich die Ansicht, dass eine gegenseitige Durchdringung
nur stattfinden kann, wenn der Mensch ein reflektiertes Bewusstsein, bzw.
ein starkes Ich besitzt. „Ein schwaches Ich, das nicht in der Lage ist,
sich selbst in der Gesamtschau seiner Welt zu erkennen, hat keine Möglichkeit,
seine eigenen Emotionen distanziert zu betrachten“ (MÜLLER, 1995,
S. 18). Für ein reflektiertes Ich-Bewusstsein ist es notwendig, dass
das Ich in Beziehung zu anderen Personen tritt, dass es sieht, wie andere
mich sehen. Erst dadurch wird es für mich möglich zu verstehen,
warum andere so handeln, bzw. für andere zu verstehen, warum ich so
handle. Auf dieser Basis ergibt sich Ganzheitlichkeit für mich aus
dem Gefüge von Emotionalität, Rationalität und moralischem
Handeln:
Aus diesem Zusammenhang
ergibt sich, dass Staunen und emotionale Betroffenheit samt der daraus
erwachsenden kognitiven Fragestellungen das dialogische Sprechen und kooperative
Handeln (den "praktischer Diskurs") zwischen den beteiligten Personen für
den Unterricht notwendig machen, wenn ganzheitliches Lernen stattfinden
soll. Aus der gegenseitigen Bedingtheit (Beziehungspfeile) wird also die
Notwendigkeit von Reflexion im praktischen Diskurs begründet.
Auch die Lerninhalte können
in Beziehung zur Emotionalität und zur Rationalität gesetzt werden.
Der Begriff „dialogischer Diskurs“ ist dann in „dialogischer Diskurs mit
der Sache“ abzuändern.
Die im Abschnitt 3.4 geforderte
Vernetzung der Unterrichtsfächer verlangt eine ganzheitliche Verknüpfung
der Begriffe im Begriffsdenken. An anderer Stelle habe ich gezeigt, dass
ein Phänomen oder eine Erscheinung nie isoliert gesehen werden darf,
sondern immer nur in Beziehung zu etwas anderem steht, generell der Beziehung
von Innen und Außenvon Nahem und Fernemvon Prozess und Produktvon Ursache und WirkungIn der „Einleitung zu
physikalischen Vorträgen“, welche sich in GOETHES Farbenlehre findet,
schreibt GOETHE:
„Und so führt uns
das Besondere immer zum Allgemeinen, das Allgemeine zum Besonderen. Beide
wirken bei jeder Betrachtung, bei jedem Vortrag durcheinander“ (GOETHE,
Farbenlehre, Ausgabe 1988, S. 68)
3.10 Die Notwendigkeit der Reflexion Im vorangegangenen Abschnitt
wurde die Notwendigkeit von Reflexion für das Entstehen von moralischem
Handeln begründet. Für den Erkenntnisgewinn auf der kognitiven
Ebene ist Reflexion ebenfalls notwendig. Das Prinzip „Mut zum Irrtum“ oder
„Mut zum Fehler“ ermöglicht das Erkennen eigener Fehler.
Für den Umgang mit
einer Sache ist ein dialogischer Diskurs mit der Sache notwendig. Dafür
benötigen die Schüler vor allem Zeit. Das Verweilen bei einer
Sache, das „tiefe Nachsinnen“ (PLATON) war eine Kunst, die SOKRATES
vollendet beherrschte. WAGENSCHEIN empfiehlt das Verweilen auf „Plattformen“
und „den Mut zur Lücke“.
Die Reflexion über
den Lernprozess macht die erworbenen Erkenntnisse bewusst und schafft neue
Erkenntnisse. Die Reflexion über das eigene Verhalten führt zum
sozialen Lernen und unterstützt moralisches Handeln. Beide Formen
von Reflexion erweitern das Ich-Bewusstsein und fördern die Fähigkeiten,
die im Menschen verborgen sind.
Für die Reflexion
über die Unterrichtsmethode und über die unterrichtlichen Inhalte
bieten sich folgende Fragestellungen an:
Für die Reflexion über
das soziale Verhalten und für das Resümee zum Abschluss könnten
diese Fragestellungen von Bedeutung sein:
Reflexion ist für die
Schüler und die Lehrer gleichermaßen notwendig. Für die
Schüler eignet sich der persönliche Bericht, den ich bei allen
Durchführungen des Projekts bisher zur Pflicht gemacht habe. Dieser
Bericht ist gleichzeitig eine Dokumentation für die Schüler über
ihr Projekt und außerdem eine Rückmeldung für den Lehrer.
Über einzelne Unterrichtseinheiten schreiben die Schüler Berichte,
welche Tagesprotokolle („Was haben wir gemacht?“) und Einschätzungen
über die Unterrichtsmethode (begründete Kritik) beinhalten. Eine
Reflexion über die sozialen Einschätzungen verlange ich im Abschlussbericht,
der im Umfang mehrere Seiten ausmachen soll. Der Bericht (mit den Exponaten)
ist für mich Beurteilungsgrundlage.
Die zweite Ebene der Reflexion
ist - im Gegensatz zum monologischen Bericht - das dialogische Gespräch,
das immer wieder in Form von „Fixpunkten“ oder auch spontan stattfinden
sollte. Im Gespräch findet der entscheidende Diskurs statt, welcher
zu sozialem Lernen führt.
Aus dem Erfolg der bisher
durchgeführten Versuche zum Projekt „Farben“ und aus der reflektierenden
Nachbetrachtung entstand die Motivation, eine Internet-Plattform zum Phänomen
Farbe zu entwickeln und diesen Beitrag zu schreiben, um den „Riesenspaß“
- wie der Schüler Dirk in seinem Bericht schrieb - anderen weiterzugeben.
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