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Moralerziehung und Handlungskompetenzen
ein Konzept nach Markus Rehm
Thomas Seilnacht

Konflikte, die nachfolgenden Gespräche und Diskussionen gehören zum Schulalltag und lassen sich nicht wegdenken. Schule ist ein Ort, in dem die Schüler lernen, Kompetenzen zu entwickeln und das gerade in kritischen Situationen. Handlungskompetenzen sollen Subjekten ermöglichen, aufgrund bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten, in Handlungssituationen „angemessen zu agieren“ (Hurrelmann). Der Moralbegriff - so Rehm - ist unabdingbar mit dem sozialen Kontext verbunden. Markus Rehm lehrt seinen Schülern, wie man miteinander gerecht und einfühlend umgehen kann und entwickelt damit sozusagen ein präventives Konfliktlösungsmodell. Gleichzeitig entwickeln die Beteiligten ihre Identität und gelangen zu einer reflektierten Persönlichkeit.Rehm schlägt vor, den ideologisch besetzten Wertebegriff bei der Moralerziehung durch den Begriff der Kompetenzen zu ersetzen. „Dieser Kernbereich einer modernen Moral sollte daher Kompetenzen beinhalten, die es den Akteuren ermöglichen, eigene Werte zu leben und unterschiedliche Werte anderer akzeptieren, mindestens aber tolerieren zu können." Der „Regisseur“ des „Ensembles moralischer Kompetenzen und Fähigkeiten“ ist nach Rehm das Subjekt selbst. Schüler werden immer wieder in Situationen gebracht, in denen sie vor der Frage stehen: „Was soll ich tun?“

Nach Rehm werden diese Situationen an bestimmten Orten im Fachunterricht eingebaut, so dass eine ganzheitliche Förderung der Person stattfindet. Rehm und auch der Autor dieses Beitrags haben dieses Prinzip im eigenen Unterricht erfolgreich eingesetzt und erprobt.
Ein "Fachunterricht", der die erzieherische Komponente nicht berücksichtigt, wird nicht nur auf der sozialen Ebene scheitern, sondern auch auf der fachlichen, weil keine Einwurzelung (des Subjekts) stattfindet:„Die Einwurzelung des Wissens von Wissenschaft, ihre Erkenntnisse und Grenzen gehen über das bloße Wissen darum hinaus. Ein genetisch-sokratisch-exemplarischer Unterricht intendiert individuelles Verstehen, um das Erleben des Selbst im Verstehen anzustoßen.“
 
Rehm gibt im Gegensatz zu den drei anderen, beschrieben Konfliktlösungsmodellen keine Rezepte oder Stufenmodelle für die Unterrichtspraxis vor. Er setzt allerdings eine reflektierte Lehrerpersönlichkeit voraus und schildert Unterrichtssituationen, in denen das Ensemble der Kompetenzen wirksam wird. Einen Unterricht, der gezielt zu „Werten“ oder zur „Demokratie“ in ausgewählten Themenbereichen erzieht, lehnt er grundsätzlich ab. Moralerziehung findet nach Rehm in den alltäglichen Unterrichts-Situationen statt (und nicht in künstlich arrangierten Situationen), z.B.:
  • durch genetisch-sokratisch-exemplarisches Lernen
  • im Prozess einer Öffnung des Unterrichts
  • durch ein Einbetten des Unterrichts in eine gestaltete Schule
 
Genetisch-sokratisch-exemplarisches Lernen
 
Was man unter diesem Begriff versteht, wurde auf dieser Seite schon bei den Beiträgen von Köhnlein und Buck/Rumpf/Messner deutlich gemacht. Die Schüler lernen nicht auswendig, sondern sie lernen an ausgewählten Unterrichtsinhalten wesentliche Aspekte und Zusammenhänge zu verstehen. Der Unterricht ist in einen sozialen Kontext eingebunden, in dem Schüler und Lehrer gemeinsam suchen, experimentieren, diskutieren und handeln. Die Lehrkraft versteht sich dabei als "Hebamme", sie gibt Impulse, wirft ungelöste Fragen auf, deutet mögliche Lösungswege an. Die Schüler entdecken nicht nur neue Wege und Ansätze in fachlicher Hinsicht, sondern lernen gleichzeitig, sich zu artikulieren, Probleme anzugehen, neue Wege auszuprobieren, sich selbst und andere besser zu verstehen. Dies ist die pädagogische Komponente, die Martin Wagenschein für die naturwissenschaftliche Didaktik gefordert hat.
 
Ein naturwissenschaftlicher Unterricht über Atome, der diesen Anforderungen gerecht wird, hat Rehm zusammen mit den beiden anderen Autoren in dem Buch "Der Sprung zu den Atomen" ausführlich geschildert. Die Welt der Atome wird nicht nur einfach auf dem üblichen Weg eingeführt, sondern er erarbeitet am Beispiel eines Fahrrades gemeinsam mit den Schülern ein System-Komponenten-Schema, das sich dann auf die Atome anwenden lässt. Rehm behauptet, dass "der geschilderte Unterricht nicht nur Inhalte transportiert, fachliche Lernprozesse anstößt, eine 'Einwurzelung' in der Welt anbahnt, sondern auch den Lernenden/die Lernende verändert und zwar in einem Bereich, der herkömmlicherweise als vollständig losgelöst von der Welt der Atome angesehen wird: Im Bereich seiner Identitätsentwicklung und seines Umgangs mit seinen Mitmenschen." (Rehm)
 
Um die Welt der Atome aus quantenphysikalischer Sicht verstehen zu können, wird ein hohes Maß an Abstraktionsdenken vorausgesetzt. Moderne Atomvorstellungen benötigen nicht nur empirisches Wissen, sondern die Vorstellungskraft des am Verstehensprozess Beteiligten wird in hohem Maße gefordert. Insofern führt ein rein fachlich orientierter Unterricht bei diesem Thema nicht zum Verstehen, wenn die Beteiligten an der Wissensfindung nicht mit ihren ganzen inneren Vorstellungen, Meinungen und Gedanken eingebunden sind. Nach Rehm eignet sich ein solcher Unterricht über Atome, fachliches Wissen und soziale Kompetenzen - z.B. Kritik- und Argumentationsfähigkeit, Einfühlungsvermögen oder eine reflektierte Selbst- und Weltsicht - zu fördern.
 
 
Öffnung von Unterricht
 
Eine Öffnung des Unterrichts findet vor allem dann statt, wenn die Lernenden den Weg und Prozess des Lernens selbst mitbestimmen können, z.B. bei Lernzirkeln (>Stoffparcours) bei der Freiarbeit (>Säuren-Laugen-Salze) oder beim projektorientierten Arbeiten (>Farbenprojekt). Auch hier ist das fachliche Lernen in einen sozialen Kontext eingebunden. Gemeinsam mit den Schülern werden Regeln aufgestellt, Probleme diskutiert und über die Lernprozesse reflektiert. In der Freiarbeit wählen Schüler Materialien aus und bestimmen ihr Lerntempo selbst. Beim Projektunterricht erarbeiten die Beteiligten einen Plan, um ein Vorhaben auszuführen und erproben die Durchführung gemeinsam in einer Gruppe.
 
Nach Rehm fördert eine Öffnung des Unterrichts zahlreiche soziale Kompetenzen, z.B. das Finden eines "moralischen Gerechtigkeitsurteils" oder die "Anschauung eines guten Lebens". Durch die offenen Lernsituationen werden die Schüler in einen "Handlungskontext manövriert", in dem sie gefordert werden, Verantwortung zu zeigen. Dem "Unterricht liegt ein tatsächlich handlungsorientierter Zusammenhang zugrunde, der sich nicht im bloßen Tun (z.B. beim Experimentieren) ergibt, sondern in der Tatsache der Verantwortlichkeit für die Materialien (pragmatische Komponente), für den eigenen sowie für den Lernprozess der anderen (soziale Komponente)." (Rehm) Bei diesem Prozess entstehen "reale Konfliktsituationen", in denen die Konflikte diskutiert und einer "fairen Lösung" zugeführt werden.
 
 
Einbetten des Unterrichts in eine gestaltete Schule
 
Die Nachhaltigkeit der erlernten Kompetenzen im Unterricht hängt nicht nur von dem Unterricht selbst ab, sondern auch von den Rahmenbedingungen. Als Beispiel schildert Rehm seine Erfahrungen, die er bei einem Besuch der "Open Schoolgemeenschap Bijlmer" (OSB) in Holland gemacht hat. Diese Schule vertritt ein einheitliches pädagogisches Konzept. Wissenserwerb und Persönlichkeitsfindung nehmen in dem Schulkonzept den gleichen Stellenwert ein. Dies erklärt auch, warum z.B. "Theaterspielen" dort ein Unterrichtsfach ist. Das Rektorat der Schule steht jederzeit offen, die Schüler gehen hier genauso ein und aus wie im Lehrerzimmer und kommunizieren mit den Lehrkräften offen und auf einer Basis des Vertrauens.
 
Rehm beschreibt einen Unterricht des Chemie- und Physikdidaktikers Rupert Genseberger. Grundsätzlich beginnt und endet jede Stunde von Genseberger in einem Sitzkreis. Die Schüler arbeiten völlig selbstständig, nachdem sie eine bestimmte Aufgabe bekommen haben. Sie bilden eigene Arbeitsgruppen, sie führen eigens entworfene Experimente durch, sie diskutieren und vergleichen gefundene Lösungen miteinander. Der Unterricht Gensebergers ist nicht nur wie bei vielen anderen Schulen auf dem Wege zu einer "Öffnung", sondern er weist bereits die Merkmale einer emanzipatorischen Erziehung (Habermas) und der pädagogischen Dimension von naturwissenschaftlichem Unterricht (Wagenschein) in hohem Maße auf. Die Rahmenbedingungen an der OSB ermöglichen Kommunikation und Interaktion, so dass Sozial-, Selbst- und Sachkompetenz in gleichem Maße gefördert werden und mündige Personen lösen ihre Konflikte selbst.
 
 
Beurteilung des Konzepts
 
Obwohl Rehm nicht explizit Konfliktbewältigung im Sinn hat, erscheint mir auch nach vielen eigenen Erfahrungen das Konzept als besonders nachhaltig zur Konfliktbewältigung. Damit dieses Konzept nicht nur in Ansätzen verwirklicht werden kann, setzt es aber eine einheitliche pädagogische Grundhaltung an den Schulen voraus. Offenheit bedeutet nicht, dass keine Grenzen gesetzt werden, aber sie ermöglicht ein Arbeitsklima, das auf Vertrauen basiert.
 
 
Literatur
  • Alle Zitate aus: Markus Rehm, Über die Chancen und Grenzen "moralischer" Erziehung im naturwissenschaftlichen Unterricht, Logos Verlag
  • Unterricht über Atome: Buck/Rehm/Seilnacht, Der Sprung zu den Atomen, Verlag Seilnacht
 

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