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Freiarbeit im Unterricht der Sekundarstufe
 exemplarisch aufgezeigt für den naturwissenschaftlichen Unterricht
Thomas Seilnacht
 
eine veränderte Fassung unter dem Aspekt des Musikunterrichts erschien in:
Praxis - Materialien - Planung (PMP), Rhein-Neckar-Verlag, 1. Lfg. I/1996 unter dem Titel: ...exemplarisch aufgezeigt für das Fach Musik
 

Inhaltsverzeichnis

1. Freiarbeit im historischen Zusammenhang

2. Die Freiarbeit im bildungs- und lerntheoretischen Zusammenhang
2.1 Schüler und Lehrkräfte als Lernende
2.2 Die Bedeutung der Freiarbeit in der Gegenwart

3. Begriffsklärungen

4. Überlegungen zur Durchführung der Freiarbeit
4.1 Begründung der Freiarbeit für den naturwissenschaftlichen Unterricht
4.2 Orientierung der am Lernprozess Beteiligten

5. Die Organisation der Freiarbeit
5.1 Das Umfeld der Klasse
5.2 Methodische Überlegungen
5.2.1 Handlungsformen und soziales Lernen
5.2.2 Fachliche Vorbereitungen
5.2.3 Umgangsregeln
5.2.4 Lernkontrolle durch Arbeitsplan und Arbeitsheft
5.2.5 Metakommunikation
5.2.6 Der Einstieg

6. Die vorbereitete Umgebung
6.1 Die Lehrkraft als Beraterin, Vermittlerin und Entfalterin
6.2 Der Raum
6.3 Das Material

7. Fortführung der Freiarbeit
7.1 Auswertung der Arbeit
7.2 Handlungsorientierung

Literatur
 
 

1. Freiarbeit im historischen Zusammenhang

Die Freiarbeit geht historisch auf verschiedene Pädagogen zurück. Die Beschreibung eines Erlebnisses von Maria Montessori soll dies verdeutlichen:

"Als ich meine ersten Versuche mit der Anwendung der Grundsätze und eines Teiles des Materials, dessen ich mich viele Jahre vorher bei der Erziehung schwachsinniger Kinder bedient hatte, bei den kleinen normalen Kindern von S. Lorenzo machte, fiel mir ein kleines Mädchen von etwa drei Jahren auf, das tief versunken war in eine Übung mit kleinen Holzzylindern, die es aus den Vertiefungen des Holzblockes herausnahm und dann wieder an ihren richtigen Platz brachte. Der Ausdruck des Kindes zeugte von einer so intensiven Aufmerksamkeit, dass es für mich eine Offenbarung war: Bis dahin hatten die Kinder noch nie eine derartige Stetigkeit der Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand gezeigt... Ich beobachtete die Kleine mit Spannung, ohne sie zu stören, und begann zu zählen, wie oft sie die Übung wiederholte; als ich aber sah, dass sie sehr lange bei der Arbeit verharrte, hob ich das Sesselchen, auf dem sie saß, mitsamt dem Kinde auf den Tisch; die Kleine ergriff in Eile den Holzblock, stellte ihn auf die Armlehnen des kleinen Sessels, nahm die kleinen Zylinder auf den Schoß und fuhr in ihrer Arbeit fort. Da forderte ich alle Kinder auf, zu singen; sie taten es, aber jene Kleine fuhr unentwegt mit der Wiederholung der Übung fort, auch als der kurze Gesang zu Ende war. Ich zählte 44 Wiederholungen; und als sie endlich aufhörte, tat sie das ganz unabhängig von den Ablenkungen um sie her, die sie hätten stören können, und blickte glücklich umher, als ob sie von erquickendem Schlaf erwacht wäre." (M. Montessori: Erziehung für Schulkinder, Stuttgart 1926)

Maria Montessori sprach vom Phänomen der "Polarisation der Aufmerksamkeit". Sie beobachtete eine stetige Aufmerksamkeit und stetige Wiederholungen (44x) des Kindes am Material. Ausgelöst wird das Phänomen durch die "vorbereitete Umgebung". Die vorbereitete Umgebung wird vor allem durch die Lehrerpersönlichkeit, den Raum und das Material bestimmt.
 
Bei Célestin Freinet konnten die Schüler in einer Klassendruckerei ihre Gedanken, Gefühle und Meinungen, aber auch Sachbeiträge drucken und veröffentlichen. Freinets Klassen standen meist mit anderen Klassen in Korrespondenz. Damit öffnete sich die Schule nach außen. Jedoch lässt sich die Pädagogik Freinets nicht eindeutig definieren. Die Freinet-Pädagogik ist durch eine besondere Geisteshaltung bestimmt: So sind Lernprozesse immer individuell, jeder Lernende hat das Recht auf seinen eigenen Lernrhythmus, seine eigene Zeiteinteilung, sein eigenes Ermessen des Lernerfolgs. Das Lernen ist auch nicht an Konkurrenz, sondern an der Kooperation zwischen allen Beteiligten orientiert. Soziales Lernen erfolgt durch das Erfahren von sozialen Rollen innerhalb der Gruppe. Die Lehrerperson fördert den "freien Ausdruck" des Lernenden: Nach Freinet ist es wichtig, dass die Schüler zuerst einmal in ihrer eigenen Sprache Phänomene oder Dinge beschreiben. Hier sind Parallelen zu Martin Wagenschein erkennbar: Gelingt es dem Lernenden, mit Hilfe seiner eigenen Sprache eine Sache zu beschreiben, ist er ganz nah bei der Sache und bei den Dingen. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass der Lernende sich weiter in die Dinge vertieft, sie hinterfragt und letztendlich vielleicht auch versteht und begreift.
 
Das Dokumentieren von Experimenten, das Beschreiben der Versuchsergebnisse und das Reflektieren darüber in der Gruppe, das Schreiben von freien Texten, das Zeichnen von Bildern oder Plakaten oder das Spielen von Rollenspielen sind Arbeitsformen, welche den freien Ausdruck ermöglichen. Im naturwissenschaftlichen Unterricht ist es besonders wichtig, dass die Schülersprache ausgiebig vor Verwendung und Einführung der Fachsprache zur Geltung kommt. Wagenschein hat darauf wiederholt hingewiesen.
 
Peter Petersen ersetzte den Stundenplan durch einen Wochenarbeitsplan. Ein Wochenarbeitsplan an einer Schule mit der Sekundarstufe I könnte folgendermaßen aussehen: Neben festgelegten Kursen von Fachunterricht sind im Wochenplan Doppelstunden für Freiarbeit, Gruppenarbeit, etc. verfügbar. Für diese Stunden erstellen die Schüler einen Arbeitsplan. Sie teilen sich die Zeit für jede Woche selbst ein und legen fest, was sie tun möchten. Sie dokumentieren ihre Planung und ihre Arbeit in einem Arbeitsheft.
 
 

2. Die Freiarbeit im bildungs- und lerntheoretischen Zusammenhang

2.1 Schüler und Lehrkräfte als Lernende
 
Maria Montessori

Montessoris Leitmotiv "Hilf mir, es selbst zu tun!" orientiert sich daran, dass jedes Kind einen Bauplan in sich hat. Freiheit für den Menschen bedeutete für sie, dass das Kind bzw. der Mensch auf seinem eigenen Weg, seinem eigenen Bauplan, vorwärts schreitet. Das Kind kann nur auf diesem Weg schreiten, wenn es unabhängig wird. Damit lehnte sich Montessori an die Vorstellung Rousseaus an, der Erziehung als Wachsenlassen und nicht als ein Instrument der Anpassung an die Gesellschaft sah. Während Rousseau Anpassung ablehnte, nahm Montessori eine Differenzierung vor: Jedes Lernen erfolgt immer in Beziehung zu anderen Personen, in der Schule vor allem im Umgang mit anderen Kindern. Sie stellte Umgangsregeln zur gegenseitigen Hilfe und Unterstützung auf. Sie versuchte auch, Behinderte in die Schule zu integrieren. Montessori verstand unter Bildung die Entfaltung jedes individuellen Menschen, welcher sich gegenüber seinen Mitmenschen sozial und loyal verhält. Gemeinschaftsbildung war für sie soziales Lernen mit verpflichtendem Charakter.

Die Freiarbeit ist eine Arbeitsform, die Individualisierung und Gemeinschaftsbildung ermöglicht, da sie dem Schüler ein differenziertes Lernangebot macht, ihm Verantwortung für seinen eigenen Lernprozess überträgt und ihn soziale Rollen vor allem mit den Gleichaltrigen erfahren lässt.
 

Martin Wagenschein

Bei Martin Wagenschein steht am Anfang des Unterrichts eine die Spontanität des Lernenden herausfordernde Staunensfrage. Im Staunen ist der Staunende ganz bei den Dingen. Er ist emotional so stark angesprochen, dass er vielleicht beginnt, die Dinge zu hinterfragen und daraus Erkenntnisse zu ziehen. Der Staunende bei Wagenschein ist ähnlich wie das Kind im Kinderheim S. Lorenzo mit den Holzzylindern ganz bei sich selbst und gleichzeitig ganz bei den Dingen. Das Ergriffensein des Staunenden über die Schönheit der Natur und ihrer Phänomene ist eine Polarisation der Aufmerksamkeit auf die Dinge, wie sie real und unmittelbar existieren. Der Begriff "Enracinement", oder "Einwurzelung", ist in diesem Zusammenhang bei Wagenschein, in Anlehnung an Simone Weil, von zentraler Bedeutung (Lit.: Weil, Wagenschein, Buck). Das Freiarbeitsmaterial kann zwar die unmittelbare Begegnung mit der Natur und seinen Phänomen nicht leisten, doch es besitzt als Medium einen starken Aufforderungscharakter, sich mit den Dingen zu beschäftigen. Außerdem ermöglicht das Schreiben der Berichte in der Freiarbeit (vgl. mit Kapitel 5.2.4) einen "freien Ausdruck". Die Schüler reflektieren mit freien Texten und Bildern (z. B. fotografische oder zeichnerische Dokumentation) über ihre Arbeit und den Unterricht, sie gestalten ihre Lernumgebung aktiv mit und schaffen sich eine eigene Wirklichkeit.

Jeder Freiarbeitsposten sollte exemplarisch ein Problem oder einen Sachverhalt darstellen, ganz im Sinne von Wagenschein.

"Das exemplarische Betrachten ist das Gegenteil des Spezialistentums. Es will nicht vereinzeln; es sucht im Einzelnen das Ganze." (Wagenschein 1968, S. 32 f.)

Aus diesem Grunde ist die Konzentration auf wesentliche Themeninhalte von zentraler Bedeutung. Das Wort Vollständigkeit bedeutet in diesem Sinne nicht die Erfüllung aller Themeninhalte eines Bildungsplanes, sondern die ganzheitliche Durchdringung eines Unterrichtsinhaltes durch vertiefendes Lernen (siehe Bildungsplan des Landes Baden-Württemberg, S. 11). Dazu gehört auch der fächerverbindende Unterricht, der ein vernetztes Lernen ermöglicht. Eine Freiarbeitseinheit sollte in diesem Sinne immer mit einen offenen Blick auf andere Fächer geplant werden. Beim Thema "Wasser" könnten zum Beispiel folgende fächerverbindende Themeninhalte ins Auge gefasst werden (vgl. auch: Buck, Kranich, Weinheim/Basel 1995).

  • Gedichte zum Thema Wasser lesen oder selbst verfassen
  • Wasserthemen vertonen oder künstlerisch in Aktion setzen
  • Ursachen und Folgen der Gewässerverschmutzung
  • Die Bedeutung des Wassers in Entwicklungsländern
  • Die kulturhistorische Bedeutung des Wassers
  • "Wasser" selbst erleben oder erfahren (baden, trinken)
  • Trinkwasser- und Gewässeruntersuchungen (chemisch und biologisch)
  • Wasser als Lebensraum (Bäche, Flüsse, Seen, Meere)
  • Analyse und Synthese des Wassers, Wasserstofftechnologie, usw.
Nur durch diese Vernetzung kann das Wasser real erlebt und verstanden werden. Eine Überbewertung der fachsystematischen Behandlung des Themas wie es im bisherigen Chemieunterricht meist stattfindet, fördert nicht das ganzheitliche Verstehen, sondern festigt den Glauben an ein totes und rein materiell orientiertes Naturverständnis. Dann ist es auch nicht verwunderlich, wenn Schüler im Chemieunterricht den Lebensbezug vermissen und schließlich das Fach ganz ablehnen.

„Mut zur Lücke sagten wir anfangs, leicht missverständlich, wir meinten: Mut zur Gründlichkeit, Mut zum Ursprünglichen. An die Stelle des Idols der breiten und statischen Vollständigkeit, die uns ängstlich Vorratskammern füllen lässt, suchen wir offenbar etwas Neues, einen entschlossenen Durchbruch zu den Quellen. Nicht Vollständigkeit der letzten Ergebnisse, sondern die Unerschöpflichkeit des Ursprünglichen." (Wagenschein 1968, S. 52 f.)

Dadurch, dass der Schüler mit dem Freiarbeitsmaterial unmittelbar arbeitet, wird genetisches Lernen (Wagenschein) ermöglicht. Bei der Freiarbeit ist die Selbststrukturierung des Lernprozesses durch den Lernenden genetisch. Er kann eine Sache oder ein Themeninhalt aus der Funktion und Entstehung des eigenen Lernprozesses heraus ergründen.
 

2.2 Die Bedeutung der Freiarbeit in der Gegenwart

Nach Klafki können in einer demokratischen Gesellschaft denkfähige, mitbestimmungsfähige und handlungsfähige Menschen ihre Bedürfnisse und Möglichkeiten nur verwirklichen, wenn sie untereinander kooperieren. Deshalb spielen für Klafki Bildungsfragen eine entscheidende Rolle, wenn das Individuum die Gesellschaft und die Zukunft mit gestaltet. Ein Zitat von Klafki verdeutlicht dies:

„Allgemeinbildung bedeutet, (...) ein geschichtlich vermitteltes Bewusstsein von zentralen Problemen der Gegenwart und - soweit voraussehbar - der Zukunft zu gewinnen, Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller angesichts solcher Probleme und Bereitschaft, an ihrer Bewältigung mitzuwirken.“ (Klafki, Neue Bildungstheorien und Didaktik, S. 56)

Nach Klafki muss die Gesellschaft die Probleme der Gegenwart - er nennt sie epochaltypische Schlüsselprobleme - bewältigen, um eine lebenswerte Zukunft in Aussicht zu haben. Schlüsselprobleme nach Klafki sind:

1. Die Friedensfrage, er fordert für die Schule deshalb Friedenserziehung;
2. die Umweltfrage, er fordert für die Schule Umwelterziehung;
3. die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit;
4. die Gefahren der Medien;
5. das Problem zwischenmenschlicher Beziehungen.
 
Eine moderne Gemeinschaftsbildung muss sich meines Erachtens an den Schlüsselproblemen der Gegenwart orientieren. Es reicht nicht aus, die Schüler - wie bei Maria Montessori - nur in sozialen Rollen untereinander in Kontakt zu bringen. Gemeinschaftsbildung heißt auch Teilnahme und Nachdenken über Probleme der Gesellschaft. Die Probleme der Gesellschaft engen den Begriff „frei“ insofern ein, dass die Freiheit jedes einzelnen Individuums dort aufhört, wo ein anderes eingeschränkt oder gar benachteiligt wird. Die Stärkung des Ichs und des Individuums darf nicht dazu führen, dass Probleme der anderen übersehen werden. Eine völlig freie Auswahl der Inhalte durch die Schüler hätte zur Folge, dass die Wahl der Lerninhalte subjektiv gefärbt ist und gesellschaftliche Probleme übersehen werden. Die Wahl der Inhalte sollte so erfolgen, dass die Interessen aller Beteiligten, auch die eines Bildungsplanes, in Einklang gebracht werden.

Die Freiarbeit ist kein Patentrezept gegen die vielen Probleme der Gegenwart. Sie alleine ist kein Mittel gegen Gewalt, Rassismus oder gegen das Verschwinden der Wirklichkeit (Hentig) und die Medienmanipulationen. Sie leistet jedoch einen ganz erheblichen Beitrag: Sie macht den Schüler mündig und verantwortungsfähig, Lernprozesse selbst zu steuern. Wer lernfähig ist, wird ein später auf ihn zukommendes Problem leichter bewältigen.
 
 

3. Begriffsklärungen

Es wurde gezeigt, dass der Freiarbeit eine bestimmte Geisteshaltung zugrunde liegt. Die Freiarbeit ist keine beliebige Methode, trotzdem unterliegt sie bestimmten Gesetzen des methodischen Handelns. In dieser Hinsicht kann Freiarbeit folgendermaßen definiert werden. Freiarbeit ist:

  • die Herstellung eines Werkes und das Vorstellen der Ergebnisse;
  • Arbeit, es geht nicht um Nichtstun;
  • keine beliebig einsetzbare Methode und kein Allheilmittel, sie setzt soziales Lernen voraus und bildet Verantwortung;
  • kein Ersatz für einen Lehrgang, sondern ein eigenständiges Unterrichtsprinzip.
Bei einer Klasse, welche Freiarbeit nicht gewohnt ist, sollte behutsam vorgegangen werden. Die Öffnung des Unterrichts ist ein langer und schwieriger Weg, auf dem alle Beteiligten zu Lernenden werden. Daher wird man bei der Einführung der Freiarbeit auf eine reduzierte Form zurückgreifen müssen.
 
 

reine Freiarbeit  reduzierte Form
Inhalte frei wählbar Auswahl aus vorgegebenen Inhalten
Zeit  frei einteilbar Vorgabe eines Zeitrahmens
Methode frei wählbar  Lernwegempfehlungen liegen vor
Niveau individuelles Lernen Vorbereitung zur Differenzierung: unterschiedliche Referate, etc.
Lehrerperson zurückhaltend, 
Entfaltung zulassend
beratend, unterstützend
 

4. Überlegungen zur Durchführung der Freiarbeit

4.1 Begründung der Freiarbeit für den naturwissenschaftlichen Unterricht

Die Freiarbeit bietet auch für den naturwissenschaftlichen Unterricht eine Vielzahl von Möglichkeiten an. Viele Elemente wie fachpraktische Fertigkeiten, das Einüben instrumenteller Arbeitsweisen, das freie Experimentieren oder das Untersuchen von Stoffen und ihrer Eigenschaften lassen sich in Freiarbeit verwirklichen. Abstrakte Stoffinhalte wie die Atomtheorie oder die Einführung in naturwissenschaftliches Modelldenken halte ich jedoch für die Freiarbeit weniger geeignet.

Die Aufstellung von Zielekatalogen ist immer problematisch. Trotzdem soll versucht werden, mögliche Ziele der Freiarbeit für den naturwissenschaftlichen Unterricht zu formulieren. Die Auflistung der Ziele zeigt, dass Freiarbeit sehr vielschichtig sein kann. Die Lernziele dürfen allerdings nicht missbraucht werden, indem man sie absolutiert. Sie sollten sich immer am Kinde, dem Jugendlichen und dem Lernenden individuell orientieren. Der Zugewinn an Bildung für jeden einzelnen ist letztendlich entscheidend und nicht das möglichst gleichrangige Erreichen eines gemeinsamen Bildungszieles. Insofern ist eine Notengebung, welche sich ausschließlich an dem Ziffernsystem orientiert und alle Beteiligten gleichsetzt, für die Freiarbeit völlig unsinnig. Viel besser ist die persönliche Rückmeldung in Form eines Gesprächs oder einer ausführlichen Stellungsnahme.
 

Mögliche Ziele der Freiarbeit im naturwissenschaftlichen Unterricht

Bildungsziele:

  • Bildungsplan
  • Epochaltypische Schlüsselprobleme (Themen aus dem Bereich Umwelterziehung)
  • Handlungskompetenz verändert Unterricht und Gesellschaft
Sozialkompetenz, Gemeinschaftsbildung:
  • Kooperationsfähgikeit
  • Kommunikationsfähigkeit
  • Empathiefähigkeit
  • Verantwortungsbewusstsein
Ichkompetenz, Individualisierung:
  • Selbständigkeit
  • Reflexionsfähigkeit
  • Zielstrebigkeit
  • Gesprächsfähigkeit
Fachkompetenz
  • Einübung instrumenteller Fähigkeiten
  • Experimentieren, Beobachten, Beschreiben, Interpretieren
  • Anfertigen naturwissenschaftlicher Dokumentationen
  • Selbstaneignung von Fachwissen (Nachschlagen in Lexika, etc.)
Lehrer-Schüler-Beziehung
  • Entfaltung von verborgenen Fähigkeiten beim Schüler
  • Lehrer und Schüler als Lernende
  • Verbesserung der Lehrer-Schüler-Beziehung (bessere Gesprächsmöglichkeiten)
  • Weiterbildung der Kompetenz des Lehrers
Entscheidend bei der Freiarbeit ist, dass das Greifen der Materialien, das schon mit dem Öffnen einer Freiarbeitskiste beginnt, das Be-Greifen der Bildungsziele und der Fachinhalte wesentlich erleichtert. Wenn Schüler und Schülerinnen mit den Händen etwas ertasten oder etwas gestalten, ist ein unmittelbarer Bezug zur Sache und zu den Dingen hergestellt. Schülerübungen und Schülerexperimente leisten hier ebenfalls gute Dienste. Sie sind für einen guten Unterricht unbedingt notwendig und können als eine besondere Form des freien Arbeitens angesehen werden. Aus diesem Grunde ist die reine Form der Freiarbeit nur eine weitere Methode des freien Arbeitens, sie ersetzt das synoptische Experiment, in dem es um das Aushandeln von Begriffen und Erkenntnissen im gemeinsamen Dialog geht, nicht (vgl. mein Buch "Naturwissenschaftliches Arbeiten").
 

4.2 Orientierung der am Lernprozess Beteiligten

Das Gelingen der Freiarbeit hängt von speziellen Merkmalen der Lernenden und der Lernumgebung ab. Arbeiten Sie die zehn Fragen des Fragekataloges durch!

Zu meiner Person

1. Was hat mich bewegt, diesen Aufsatz zu lesen?
2. Wo stehe ich mit meinem Unterricht, was möchte ich ändern?
3. Welche Bedenken habe ich gegen die Freiarbeit?
4. Welche Kompetenzen als Lehrer oder Lehrerin sollte ich vermitteln können?
5. Nennen Sie fünf Leitgedanken Ihres Unterrichts!
6. Welche Ziele der Freiarbeit sagen mir beim Lesen des Zielekataloges in besonderem Maße zu?

Zur Ausgangslage der Schüler und der Klasse

7. Wie stehe ich zu meiner Klasse und zu einzelnen Schülern?
8. Wo sehe ich Probleme in meiner Klasse, wenn ich Freiarbeit durchführe?
9. Was möchte ich mit der Freiarbeit in meiner Klasse verändern oder erreichen?
10. Wo sehe ich weitere Probleme im Umfeld der Klasse (Kollegen, Arbeitsteilung, Eltern, räumliche Gegebenheiten, etc.)?
 
 

5. Die Organisation der Freiarbeit

5.1 Das Umfeld der Klasse

Ideal wäre, wenn die Freiarbeit von ganzen Umfeld der Klasse getragen würde. Zum Umfeld gehören die Arbeitskollegen, der Rektor, der Hausmeister, die Schule und die Eltern. Wenn Sie die Eltern von Ihrer Arbeit überzeugen können, dann erlangen Sie einen Bonus. Viele Eltern sind dann sogar bereit, aktiv an der Erstellung von Freiarbeitsmaterialien mitzuhelfen. Das Überzeugen der Eltern gelingt im Regelfall jedoch nur, wenn die Schüler hinter Ihrer Person und der Methode stehen.

Im Idealfall arbeiten mehrere Kollegen von verschiedenen Fächern zusammen. Dann besteht die Möglichkeit, die Freiarbeit fächerübergreifend anzulegen. Zur Materialerstellung können die Schüler beteiligt werden. Werden Stunden von mehreren Fächer zusammengelegt, besteht die Möglichkeit, eine Unterrichtseinheit im Block zu unterrichten. Außerdem kann es von Vorteil sein, feste und regelmäßige Freiarbeitsstunden innerhalb des wöchentlichen Stundenplanes fest einzuplanen.

Das Gewinnen der Akzeptanz von Kollegen ist oft mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Viele sperren sich gegen eine derartige Unterrichtsform, welche traditionelle und vielerorts festgefahrene Meinungen in Frage stellt. Leider sind viele Lehrer und Lehrerinnen nicht bereit, eigene Positionen neu zu überdenken, da sich ihr Unterrichtsprinzip schon längst bewährt hat, auch wenn es auf Ablehnung bei den Schülern stößt. Ich schlage hierfür zwei mögliche Wege vor:

1. Arbeiten Sie mit den Kollegen so offen und kooperativ wie möglich. Dann fühlt sich niemand übergangen und ausgegrenzt. Die kooperative Vorgehensweise ist jedoch nur bei einem halbwegs offenen Kollegium möglich.
 
2. Versuchen Sie nicht, alteingesessene und festgefahrene Kollegen zu überzeugen. Wer nicht mehr umdenken will, wird es auch nicht, wenn Sie es versuchen. Lassen Sie derartige Kollegen zu Ihrem eigenen Schutz in Ruhe und arbeiten Sie nur mit Personen, welche Kooperationsfähigkeit und Offenheit zeigen, zusammen.
 

5.2 Methodische Überlegungen

5.2.1 Handlungsformen und soziales Lernen

Die Aufstellung eines Planes zu Beginn des Schuljahres, welcher Überlegungen zur zeitlichen und methodischen Organisation für das laufende Schuljahr in einer Klasse beinhaltet, ist sehr sinnvoll. Die Umstellung von herkömmlichem Unterricht auf selbstverantwortende Arbeitsformen ist auch für die Schüler eine erhebliche Umstellung, vor allem dann, wenn sie derartige Arbeitsformen nicht gewohnt sind. Die Öffnung des Unterrichts beginnt nicht mit der Freiarbeit, sondern sie sollte schon vorher stattfinden. Eine wichtige Sozialform ist der Gesprächskreis oder Stuhlkreis. Hier tauschen die Schüler und Schülerinnen ihre Erlebnisse des vergangenen Wochenendes aus, sie kommen miteinander ins Gespräch und berichten sich über aktuelle Interessen und Gefühlsbeziehungen. Die durch den Gesprächskreis zustande kommende Atmosphäre einer gegenseitigen Verbindlichkeit und von Vertrauen wirkt sich sehr positiv auf die Lehrer-Schüler-Beziehung und auf die Schüler-Schüler-Beziehung aus, die beste Grundlage für das Gelingen des nachfolgenden Unterrichts.

Eine weitere Sozialform, welche sich zur Öffnung des Unterrichts eignet, ist die Partner- oder Gruppenarbeit. Die Schüler übernehmen kleinere Aufgaben, welche sie zusammen mit anderen vorbereiten sollten. Aufgabenstellungen mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten führen zu einer Differenzierung, welche ein wichtiger Bestandteil der Freiarbeit ist. Ausgehend von dem Leitgedanken, dass Lernen immer individuell ist - gebunden an Gemeinschaftserfahrung - gestattet eine Differenzierung dem Lernenden,

  • das Lerntempo selbst zu bestimmen,
  • die Stoffinhalte gemäß seinen Fertigkeiten auszuwählen,
  • den Lernort und einen Lernpartner selbst zu bestimmen,
  • das Material und die Lernmethode selbst zu organisieren.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Vorbereitung zur Dokumentation von Arbeit. Vor allem die Heftführung und die Einführung eines Arbeitsheftes, in welchem die Schüler eigene Meinungen, eigene Arbeiten, Experimentierprotokolle, usw. eintragen, ermöglicht in besonderem Maße die Fähigkeit zur Selbstorganisation von Lernprozessen. Nach meinen Erfahrungen ist es von Vorteil, ein Arbeitsheft schon gleich zu Beginn des Schuljahres einzuführen. Im naturwissenschaftlichen Unterricht habe ich mit der Heftführung von drei verschiedenen Heften gute Erfahrungen gemacht:

1. Im „Heft für Unterrichtsmitschriebe“ tragen die Schüler Tafelanschriebe und Unterrichtsinhalte, welche frontal vermittelt wurden, ein.
 
2. Im „Heft für Schülerübungen“ notieren sich die Schüler in vorgefertigten Arbeitsblättern Ergebnisse und Beobachtungen der Schülerübungen. (Ich unterscheide zwischen „Schülerübung“ und „Schülerexperiment“, siehe auch in meinem Artikel „Komplementäres Verstehen und synoptisches Lernen“).
 
3. Im „Berichtsheft für Schülerexperimente“ dokumentieren die Schüler sämtliche Überlegungen, Beobachtungen und Auswertungen zu ausgewählten Experimenten, welche sie selbst geplant und/oder durchgeführt haben. Ein wichtiges Merkmal dieses Heftes ist, dass für die Experimente gerade kein Arbeitsblatt vorliegt. Ausgangspunkt ist immer eine formulierte Problemstellung. Die Schüler sollen die Experimentierergebnisse schriftlich und graphisch dokumentieren und reflektieren.

In einer Klasse, welche die Freiarbeit nicht gewohnt ist, empfiehlt es sich auch, mit einem Lernzirkel einzusteigen. Der Lernzirkel ist eine freie Arbeitsform des Lernens in Stationen. Die Aufgaben der Stationen sollten nicht mehr als eine Viertelstunde in Anspruch nehmen. Bei der Freiarbeit können sich Schüler mit einem Posten auch mehrere Stunden beschäftigen, wenn er ansprechend gestaltet ist.

Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist die wichtigste Grundlage für das Gelingen der Freiarbeit (Näheres siehe im Kapitel „Vorbereitete Umgebung, Lehrerpersönlichkeit“). Wichtig ist auch die Vernetzung aller unterrichtlichen Aktionsformen. Gelingt das Gespräch im Frontalunterricht nicht, werden sich voraussichtlich auch bei der Freiarbeit Schwierigkeiten ergeben. Andererseits kann aber gerade die Freiarbeit dazu beitragen, den „herkömmlichen“ Unterricht positiv zu beeinflussen.
 

5.2.2 Fachliche Vorbereitungen

Der Einsatz der Freiarbeit im fachlichen Zusammenhang zu einer Unterrichtseinheit kann im naturwissenschaftlichen Unterricht unter verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen:

Die Freiarbeit kann:

  • ein Unterrichtsthema vertiefen (Beispiele: Wissensquiz, Experiment);
  • auf ein Unterrichtsthema vorbereiten (Beispiele: Phänomen, Experiment);
  • ein Unterrichtsthema erarbeiten (Beispiel: Bei der Auswertung einer Schülerübung müssen Begriffe in einem Lexikon nachgeschlagen werden);
  • fachpraktische Fertigkeiten fördern (chemische Arbeitsmethoden, Labortechniken);
  • ein Problem transparent machen (Beispiel: Experimentieraufgabe);
  • ein Unterrichtsthema ergänzen (Beispiel: Variationsexperimente);
  • Verknüpfungen zu anderen Unterrichtsfächern herstellen (Beispiel: Gedichte oder Texte zum Thema Wasser sollen gelesen und interpretiert werden);
  • psychomotorische Förderung ermöglichen (bei allen praktischen Tätigkeiten)
5.2.3 Umgangsregeln

Bei der Durchführung von Freiarbeit können Umgangsregeln erarbeitet werden. Diese lauten beispielsweise:

  • Überprüfe das Material auf Vollständigkeit!
  • Behandle das Material sorgfältig!
  • Lege das Material nach der Arbeit vollständig in den Schrank zurück!
  • Störe niemand bei der Arbeit!
  • Arbeite und spiele leise!
  • Hilf anderen oder lass dir helfen!
  • Protokolliere in deinem Heft, was du gearbeitet hast!
Die Umgangsregeln werden auf einem Plakat deutlich sichtbar an die Wand gehängt. Wird es einmal während der Freiarbeit zu laut, kann auf das Plakat verwiesen werden. Derartige Umgangsregeln nehmen Schüler sehr ernst, wenn sie von ihnen selbst im Dialog ausgehandelt wurden.
 

5.2.4 Lernkontrolle durch Arbeitsplan und Arbeitsheft

Die Lernkontrolle wird durch einen Arbeitsplan, welcher im Raum aushängt, und durch das Arbeitsheft gesteuert. Am Lehrertisch befindet sich ein Korb, in den fertige Arbeiten gelegt werden können. Im Arbeitsheft sollen die Schüler folgende Einträge verbindlich vornehmen:

1. Titelblatt, Inhaltsverzeichnis

2. Einzelberichte:  Tagesprotokoll: Datum, Name des Postens, Zeitdauer
                           Kurzer Kommentar zum Posten (Kritik, Anregungen, Inhalte)
                           Arbeitsaufträge bearbeiten (wenn im Posten angegeben)

3. Abschlussbericht: nach Abschluss der Freiarbeitseinheit

Im Abschlussbericht reflektieren die Schüler über die Unterrichtseinheit:

  • Gelernt habe ich... (inhaltlich, methodisch, sozial)
  • Gefallen hat mir...
  • Missfallen hat mir ...
  • Als Anregungen hätte ich folgendes vorzuschlagen...
  • Probleme gab es...
  • Während der Freiarbeit fühlte ich mich...
Für jede Klasse ist ein Plan ausgehängt. Darauf sind alle Materialposten tabellarisch aufgelistet (z.B. 1-10). Jeder Gruppe ist eine Zeile zugeordnet (A-Z), in welche erledigte Arbeitsaufträge eingetragen werden. Ein eingetragener Kreis bedeutet, dass der entsprechende Posten von der Gruppe bearbeitet wird. Ist in den Kreis ein Kreuz oder ein Datum eingetragen, hat die Gruppe den Posten erledigt. Der Arbeitsplan kann auch als großes Poster präsentiert oder aus Holz gefertigt werden.

 
 
 
Download eines Arbeitsplanes (pdf)


5.2.5 Metakommunikation

Zur Lernkontrolle gehören auch regelmäßige „Fixpunkte“ in Form eines Gesprächs. In diesen Gesprächen können folgende Inhalte zur Sprache kommen:

  • Was wurde bisher gemacht, was wird noch beabsichtigt?
  • Berichte und Kommentare über die bisherige Arbeit
  • Wo gab es Schwierigkeiten oder Probleme?
  • Korrekturen durch die Lehrerperson: Einhalten der Umgangsregeln, Führen des Arbeitsheftes, Materialbehandlung, Organisationsprobleme, usw.
  • Anregungen der Schüler
  • Organisatorische Fragen und Vorstellen von Ergebnissen
Das Besprechen und Ausdiskutieren von Problemen sollte ermöglicht werden. In der Metakommunikation beschäftigen sich die Teilnehmer mit dem Geschehen und mit Problemen der Gruppe. Sie dient der Lösung von Problemen und verstärkt die soziale Beziehungsebene zwischen allen Teilnehmern.
 

5.2.6 Der Einstieg

Sobald die pägagogisch-methodische Vorbereitungsphase abgeschlossen ist, kann die Freiarbeit beginnen. Zur Einführung ist eine Vorbereitungsstunde, die eine Woche vor dem tatsächlichen Beginn liegen sollte, empfehlenswert:

1. Zuerst stelle ich den Schülern die Materialposten, welche in einem Schrank numerisch geordnet sind, vor. Die Aufmerksamkeit der Schüler richtet sich dadurch schon zu Beginn auf das Material.
 
2. Dann zeige ich ihnen ein Übersichtsplakat über die Materialposten und führe sie in die Benutzung des Arbeitsplanes ein.
 
3. Im Anschluss daran erarbeite ich die Umgangsregeln. Diese werden auf ein Plakat groß und deutlich geschrieben.
 
4. Ich erläutere den Schülern, was ich mir von der Anfertigung des Arbeitsheftes erwarte. Oft teile ich auch ein Merkblatt mit den wichtigsten Anforderungen aus (Einzelberichte, Abschlussbericht).
 
5. Am Ende fordere ich die Schüler auf, bis zur nächsten Woche die Gruppen einzuteilen und ein Arbeitsheft anzulegen.

Durch diese Vorgehensweise wird die Spannung auf die erst in einer Woche beginnende Freiarbeit erhöht und Zielstrebigkeit erreicht. Es genügen dann in der Regel nur noch kurze Hinweise, bevor die Freiarbeit wirklich beginnt und der Schrank aufgeschlossen wird. Die Gruppeneinteilung sollte dann aber geregelt sein. Die Ankündigung zum Beenden einer Freiarbeitsstunde erfolgt etwa 5 Minuten vor dem tatsächlichen Ende, damit die Gruppen genügend Zeit haben, um eine begonnene Arbeit abzuschließen und aufzuräumen bzw. das Material auf Vollständigkeit zu überprüfen.
 
 

6. Die vorbereitete Umgebung

6.1 Die Lehrkraft als Beraterin, Vermittlerin und Entfalterin

Die Lehrkraft ist ganz wesentlich am Geschehen der Freiarbeit beteiligt. Nur wenn sich eine positive Lehrer-Schüler-Beziehung bereits entwickelt hat, ist Freiarbeit überhaupt möglich.

Nach Montessoris Leitsatz „Hilf mir es selbst zu tun!“ ist die Lehrkraft Entfalterin derjenigen Möglichkeiten, welche im Kind verborgen sind. Sie schafft die vorbereitete Lernumgebung zur Entfaltung des Lernenden. Ausgehend von der Vorstellung, dass jeder Mensch bereits einen Bauplan in sich habe, ist das Erwecken der still schlummernden Kräfte im Menschen oberstes Ziel im Unterricht der Freiarbeit.

Die Lehrkraft berät die Schüler auf Wunsch oder nach eigenem Ermessen bei fachlichen und inhaltlichen Fragen, in Konfliktsituationen und bei Problemen der Schüler. Obwohl sie sich bei der Freiarbeit stark zurücknimmt und die Schüler sich vorwiegend direkt mit dem Material und den Inhalten beschäftigen, wird sie nie aus der Rolle der Vermittlerin von fachlichen Inhalten einerseits und kulturellen Normen andererseits aussteigen. Sie sorgt, zusammen mit den Schülern, dafür, dass Umgangsregeln eingehalten werden und dass etwas gearbeitet wird. Sie sucht geeignetes Material für die Freiarbeit aus und stellt es zur Verfügung. Sie bleibt Ansprechpartnerin für fachliche Fragen und Probleme. Bei Freiarbeit gilt natürlich das Gebot: zurückhaltend, viel Freiräume eingestehend, aber dennoch konsequent im Äußern von Erwartungen.

In der Freiarbeit ist die Lehrkraft mit ihrer ganzen Person gefordert. Sich in Schüler hineinversetzen zu können ist eine Grundvoraussetzung. Sie muss merken, wann sie sich zurücknehmen muss und wann welche Probleme auftauchen. Eine Voraussetzung für das Sich-zurücknehmen-Können ist die Fähigkeit, andere Personen unabhängig von seiner eigenen, egozentrischen Sichtweise sehen zu können. Sie braucht eine ganze Portion Selbstkritik- und Selbstreflexionsfähigkeit. Dadurch wird sie lernfähig und kann selbst zur Lernenden werden. Sie wird unabhängig von äußeren Abhängigkeiten, wenn sie ihre persönlichen Schwächen und „Schattenseiten“ kennt.

Trotz allem werden Lehrer und Lehrerinnen Menschen mit Schwächen bleiben. Aber sie sollten auf jeden Fall Fachmann und Fachfrau für das Lehren und Lernen sein und kompetent genug, um Konfliktsituationen zu meistern. Wie man Konflikte analysiert und auf kooperativem Weg löst, können Sie in meinem Beitrag zur Konfliktbewältigung nachlesen.
 

6.2 Der Raum

Die Beziehung der Schüler zu dem sie beim Lernen umgebenden Raum wird oft unterschätzt. Ein Raum, in dem sich Schüler wohl fühlen, wirkt sehr positiv auf die Entwicklung der Schüler. Der Raum ist am Lernklima und am Klassenklima maßgeblich beteiligt. Ein enger, steriler Fachraum mit festgeschraubten Tischen wirkt auf Lernprozesse stark einengend. Die Grundregel für einen „idealen“ Raum bei der Freiarbeit lautet:

Die Schüler sollen sich im Raum frei bewegen und trotzdem einen Platz haben, zu dem sie sich zurückziehen und ungestört arbeiten können.

Ein Raum für die Freiarbeit im naturwissenschaftlichen Unterricht könnte folgendermaßen aussehen:

  • Im Raum verteilt befinden sich Gruppenarbeitstische, die im Idealfall nicht fest angeschraubt sind. Ich selbst unterrichte die Freiarbeit zu meinem Leidwesen in einem „Chemiesaal“ mit angeschraubten Tischen und unterschiedlichem Höhenniveau, so wie es in vielen Chemie-Fachräumen zu finden ist. Trotz allem ist es möglich.
  • Das Material befindet sich numerisch geordnet in Schränken oder Regalen an festen Plätzen. Der Arbeitsplan hängt daneben. Ein Übersichtsplakat informiert kurz über die Inhalte der einzelnen Materialposten.
  • Die Schüler können sich den Ort, an dem sie arbeiten, frei aussuchen. Günstig ist es, wenn ein Nebenraum zur Verfügung steht. In diesem können Computer für Schreibarbeiten zur Verfügung gestellt werden.
  • Auch das Anlegen einer kleinen Fachbibliothek mit ausgewählten Büchern und Nachschlagewerken zum Thema ist von Vorteil.
Der Raum des Lernens ist im Idealfall eine fächerübergreifende Lernwerkstatt oder ein Lernatelier, in dem sich die Schüler und Schülerinnen wie Künstler bewegen und mit Hilfe der vorhandenen Materialien ihre kreative Arbeit verrichten. An den Wänden befinden sich Arbeitspläne. Es gibt Orte, zu denen sich Schüler zurückziehen können, um in aller Ruhe zu lesen. Am Tisch der Lehrkraft befindet sich ein Korb für Arbeiten, die von ihr zur Kontrolle gelesen werden sollen. Insgesamt ist zu beachten, dass ein Überangebot an Reizen sich auch negativ auswirken kann.
 

6.3 Das Material

An das Material, mit welchem die Schüler arbeiten, sollten bestimmte Ansprüche gestellt werden:

  • Es sollte alle Sinne, vor allem den Tast- und Greifsinn, ansprechen.
  • Es sollte eine Arbeitsanleitung enthalten, welche eine selbständige Bearbeitung der Aufgaben ohne fremde Hilfe ermöglicht.
  • Es sollte eine Selbstkontrolle ermöglichen.
  • Ein Materialposten sollte nur einen Lernschritt oder ein Problem behandeln (Isolierung der Schwierigkeiten).
  • Die äußere Beschaffenheit des Materials sollte ästhetisch ansprechend sein.
  • Jeder Materialposten befindet sich an einem festen Ort.
  • Zu einem Thema sollten unterschiedliche Materialangebote mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden vorliegen. Damit ist eine individuelle Differenzierung gewährleistet.
  • Das Material sollte nur einmal vorhanden sein. Nach Montessori fördert dies die Kooperation, weil sich die Schüler dann untereinander absprechen müssen, wer was macht.
  • Das Material sollte einen Themeninhalt exemplarisch darstellen.
Bei der Erstellung der Materialposten ist auf die Einhaltung dieser Postulate zu achten. Jeder Posten ist in einem stabilen Kasten untergebracht (Holzkiste, Falzkarton, etc.) und enthält:
  • Arbeits-, Experimentier- oder Spielanleitung auf dem Deckel oder im Kasten
  • Inventarliste (evt. unterhalb des Deckels)
  • Arbeits-, Experimentier- oder Spielmaterial
  • Material zur Ergebniskontrolle (evt. auch extra Lexikon oder Karteikarten)
  • Anregungen und Informationen
Abweichend von Montessori kann das Material in doppelter Ausführung erstellt werden. Oft wird eine Arbeitsgruppe an einem Tag mit ihrem Materialposten nicht fertig, dies führt dann zu Engpässen. Die Schüler arbeiten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Die doppelte Ausführung erhöht die Flexibilität und mindert den kooperativen Effekt bei der Materialauswahl nicht wesentlich.

Das Übersichtsplakat, welches neben dem Arbeitsplan an der Schranktür hängt, informiert kurz über den Inhalt und den Aufgabenbereich jedes einzelnen Materialpostens. Es wird von den Schülern vor jeder Materialauswahl gelesen. Die Lehrkraft sollte sich auch überlegen, ob die Durchführung aller oder einer Mindestanzahl der Materialposten verpflichtend ist.
 

7. Fortführung der Freiarbeit

7.1 Auswertung der Arbeit

Eine Zwischenbilanz wird von den Schülern in den immer wieder die Freiarbeit unterbrechenden Gesprächen gezogen. Sie berichten kurz über ihre bisherige Arbeit und stellen erste Ergebnisse vor. Die Einführung der Freiarbeit im naturwissenschaftlichen Unterricht im Gesamtzusammenhang könnte sich folgendermaßen darstellen:

1.-4. Unterrichtswoche:
„herkömmlicher“ Unterricht mit Fachinformationen und instrumentelle Einführung in chemische Arbeitsmethoden, Beachtung von Sicherheitsvorkehrungen, Anlegen von Arbeitsheften (vgl. mit Kapitel 5.2.1)

5. Unterrichtswoche: doppelstündiger Lernzirkel (z. B. „Der Stoffparcours“)

6.-8. Unterrichtswoche: Unterricht wie zu Beginn

ab 9. Unterrichtswoche: Freiarbeitseinheit z.B. Thema „Wasser“ oder „Feuer“

In einer Auswertungsstunde am Ende jeder Freiarbeitseinheit lesen sich die Schüler gegenseitig aus ihren Berichten vor und äußern Anregungen zu den einzelnen Posten. Die Berichte werden eingesammelt und durchgelesen. Sollen sie beurteilt werden, gelten folgende Kriterien:

  • Fehlerkorrekturen werden innerhalb der Schülerarbeit nur sehr sparsam vorgenommen; besser ist ein ausführlicher Schlusskommentar, der auf Fehler hinweist.
  • Ein Beurteilungsmaßstab richtet sich vor allem nach der eigenen Einschätzung des Lernerfolgs durch den Schüler oder die Schülerin. Wer einen ausführlichen und differenzierten Abschlussbericht schreibt, hat sich viel Gedanken gemacht.
  • Rechtschreibfehler und Ausdruck werden nur untergeordnet bewertet.
  • Qualität ist höher einzuschätzen als Quantität.
Erfahrungsgemäß tun sich Schüler anfangs mit einer Selbsteinschätzung sehr schwer. Der Lehrer wird deshalb den Schülern Methodenkompetenz zur Beurteilung der eigenen Arbeit vermitteln müssen. Er ermuntert sie in gemeinsamen Gesprächen immer wieder,
  • über ihre Arbeit zu berichten,
  • ihre Arbeit genau zu dokumentieren,
  • Kritik zu äußern,
  • Anregungen zu geben,
  • mit anderen Schülern ins Gespräch zu kommen.
 

7.2 Handlungsorientierung

Die Schüler sollten immer wieder ermuntert werden, eigenes Material oder eigene Freiarbeitsposten zu basteln und herzustellen.

Eine wirkliche Handlungsorientierung ist nur erreicht, wenn eine getane Arbeit zu einer längerfristigen Veränderung innerhalb und außerhalb des Unterrichts führt. Unter Veränderung ist jede Form einer neuen Erkenntnis oder eines Lernzuwachses im Sinne des hermeneutischen Zirkels zu verstehen. Nach John Dewey ist ein „Denkakt“, und im übertragenen Sinne ein Lernabschnitt, erst dann abgeschlossen, wenn er in der Wirklichkeit überprüft und praktisch erprobt wurde.

Der in der Freiarbeit stattfindende Lernprozess sollte innerhalb und außerhalb des Unterrichts zu Veränderungen führen. Wenn die Schüler beginnen, selbst Material herzustellen und den Unterricht mit ausgestalten, hat eine Veränderung im Sinne Deweys stattgefunden.
 

Literatur

  • Bildungsplan des Landes Baden-Württemberg, Stuttgart 1994
  • Böhm, W.: M. Montessori, Bad Heilbrunn 1969
  • Buck, P. und Kranich, E.-M.: Auf der Suche nach dem erlebbaren Zusammenhang, Weinheim und Basel 1995
  • Buck, P.: Einwurzelung und Verdichtung, Dürnau 1997
  • Danner, H.: Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik
  • Dietrich, I.: Célestin Freinet, In: ZS Pädagogik 3/92
  • Gervé, F.: Freiarbeit, Lichtenau 1992
  • Gordon, T.: Lehrer-Schüler-Konferenz, Hamburg 1977
  • Gudjons, H.: Handlungsorientiert lehren und lernen, Bad Heilbrunn 1989
  • Hänsel, D.: Das Projektbuch Sekundarstufe, Weinheim 1988
  • Hentig, Hartmut von.: Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit, München 1984
  • Holstiege, H.: Modell Montessori, Freiburg 1977
  • Klafki, W..: Neue Bildungstheorien und Didaktik, Weinheim 1992
  • Krieger, C. G.: Mut zur Freiarbeit, Hohengehren 1994
  • Montessori, M.: Montessori-Erziehung für Schulkinder, Stuttgart 1926
  • Montessori, M.: Die Entdeckung des Kindes, Freiburg i. Br. 1969
  • Montessori, M.: Kinder sind anders, München/Stuttgart 1988
  • Müller-Wieland, M.: Wandlung der Schule, Schaffhausen 1976
  • Ortling, P.: Maria Montessori, In: ZS Pädagogik 1/92
  • Reichen, J.: Hinweise zum Werkstattunterricht, In: ZS Sachunterricht und Sachbegegnung, Zürich 1991
  • Rogers, C. R.: Lernen in Freiheit, München 1974
  • Schulz von Thun, F.: Miteinander Reden 1, Hamburg 1981
  • Sehrbrock, P.: Freiarbeit in der Sekundarstufe I, Frankfurt 1993
  • Seilnacht, T.: Freiarbeit im Unterricht der Sekundarstufe - exemplarisch aufgezeigt für das Fach Musik, PMP, Rhein-Neckar-Verlag, Lfg. I/1996
  • Seilnacht, T.; Naturwissenschaftliches Arbeiten, Bern 2004
  • Seilnacht, T.: Komplementäres Verstehen und synoptisches Lernen (zur Veröffentlichung vorbereitet)
  • Skiera, E.: Peter Petersen, In: ZS Pädagogik 2/92
  • Ullrich, H. und Hamburger, F.: Kinder am Ende ihres Jahrhunderts, Langenau - Ulm 1991
  • Wagenschein, M.: Verstehen lehren, Weinheim 1968
  • Wagenschein, M.: Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken, Band 1 und 2, Stuttgart 1970
  • Weil, S.: Die Einwurzelung, München 1956

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