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Das kooperative Modell nach Schulz von Thun
Thomas Seilnacht  
 
Schulz von Thun bezieht sich zunächst auf Ergebnisse der Kommunikationsforschung. Die Ursache für viele Konflikte sieht er darin, dass Botschaften beim Empfänger oft anders interpretiert werden, wie es der Sender eigentlich gemeint hat. Der Grund dafür ist in einer eindimensionalen Kommunikation zu sehen. Jede Information hat aber nach seiner Ansicht immer vier Ebenen. In jeder Botschaft sind immer vier Nachrichten gleichzeitig enthalten:


 


Dieses Modell führt völlig neue Perspektiven im Hinblick auf die Kommunikation ein. So kann man bei einer Aussage gleichzeitig Recht und Unrecht haben.
 
Beispiel:
Situation: Ein Ehepaar fährt im Auto, sie fährt und wartet an einer Ampel.
Mann: „Du, da vorne ist grün!“
Frau: „Fährst du oder fahre ich!?“
 
Diese Situation, die auch leicht in einen Ehekrach übergehen kann, lässt sich nach dem vorliegenden Modell beurteilen. Der Mann will vielleicht einfach nur eine Sachinformation geben („Die Ampel steht auf grün“), da die Frau das Signal übersehen hat. Die Reaktion der Frau deutet jedoch darauf hin, dass die Nachricht auf der Beziehungsebene bei ihr anders angekommen ist. Sie fühlt sich vielleicht zu Recht von ihrem Mann bevormundet und wehrt sich dagegen. In diesem Fall bedeutet die Aussage des Mannes auch eine Selbstoffenbarung („Ich bin aufmerksam und fahrtüchtig, was man von Frauen nicht immer sagen kann“). Die Reaktion der Frau kann auch als Selbstoffenbarung ihrerseits interpretiert werden (sie hat ein Vorurteil über Männer). In diesem Fall tut sie ihrem Mann unrecht, wenn er beispielsweise nur einen Appell senden will, damit die Frau einfach fährt (weil er vielleicht Angst davor hat, dass von hinten einer auffährt).
 
Die Reaktion der Frau deutet darauf hin, dass die Kommunikation zwischen den beiden nicht einwandfrei funktioniert und dass klärende Gespräche notwendig sind. Wenn die Frau sich in dem beschrieben Beispiel bevormundet fühlt, dann sendet sie eine implizite Botschaft. Sie sagt nicht direkt, was sie eigentlich meint. Bei einer expliziten Botschaft würde sie antworten. „Du, ich habe selbst gesehen, dass die Ampel grün ist, ich lasse mich von dir nicht bevormunden!“
 
Stimmt bei einer Nachricht die Mimik und die Körpersprache mit der gesendeten Information überein, spricht man von Kongruenz: Die Aussage „Es geht mir nicht gut“ erscheint schlüssig, wenn dazu mit trauriger, leiser Stimme gesprochen wird und das Gesicht entsprechend traurig wirkt. Passt die Nachricht nicht mit der Mimik, dem Tonfall oder der Art der Formulierung zusammen, handelt es sich um eine inkongruente Nachricht. Derartige Nachrichten kann der Empfänger nicht einschätzen, er wird dabei verwirrt.
 
Diese Verwirrung kann bei Kindern zu einer Entscheidungsunfähigkeit führen, im schlimmsten Fall sogar zu Schizophrenie. Besonders gravierend sind in diesem Zusammenhang auch Doppelbotschaften der Mutter, z.B. wenn der Sohn ausziehen möchte, sagt sie: „Ich möchte, dass du nie von mir abhängig wirst, ich gehe freiwillig ins Altersheim!“ Diese Nachricht kann von einem Jugendlichen als Drohung verstanden werden, z.B. „Wie kannst du nur so gemein sein und mich alleine lassen!“.Bei Störungen in der Kommunikation hört der Empfänger oft nur mit einem Ohr oder bewertet eine Ebene, z.B. die Beziehungsebene über. Im Unterricht kann dies zu erheblichen Missverständnissen führen. Die Lehrkraft kann sich ein wesentlich differenzierteres Bild von der Situation machen, wenn sie mit allen vier Ohren gleichzeitig hört.
 
Überbewertung des Sach-Ohres:
 
Ein Streit wird auf der Sachebene geführt, obwohl der Grund in der Beziehungsebene liegt. Beispiel:
Lehrer: „Meinst du nicht, dass Kaugummikauen für die Zähne ungesund ist?“
Schüler: „Nein, es ist für die Zähne gesund, das habe ich gelesen!“
 
Der Fehler der Lehrkraft liegt darin, dass sie den Konflikt über die Beziehungsebene hätte führen müssen, wenn sie nicht möchte, dass die Schüler im Unterricht Kaugummis kauen, z.B. „Es stört mich, wenn du Kaugummi kaust, ich muss es unter der Bank dann wieder wegputzen!“. Der Schüler hätte nicht auf die Sachdiskussion eingehen dürfen (auch wenn er das natürlich in diesem Fall gerne tut, damit er vom eigentlichen Problem ablenken kann, z.B. dass die Kaugummis unter die Bank geklebt werden).
 
Überbewertung des Beziehungs-Ohres
 
1. Beispiel
Lehrer: „Du hast eine gute Note geschrieben!“
Schüler: „Das sagen sie nur, um mich zu trösten!“
In diesem Fall weicht der Schüler auf die Beziehungsebene aus und bewertet die Beziehung über. Er bezieht alles auf sich.
 
2. Beispiel
Schüler: „Schon wieder das langweilige Thema!“
Lehrer: „Ich verbitte mir derartige Unverschämtheiten!“
(ohne Kommentar)
 
Das Selbstoffenbarungs-Ohr
 
Der Vorteil des Selbstoffenbarungs-Ohres liegt darin, dass man einen Menschen verstehen kann, ohne sich selbst einzubeziehen. Eine Gefahr liegt in einer möglichen Verurteilung des Senders. Das Ablegen in eine Schublade nach dem Motto „Er ist so...“ kann schnell zu einem voreiligen Psychologisieren führen.
 
Beispiel:
„Das tun sie ja nur, weil sie aufgrund ihrer Kindheit nicht mit dem Leben fertig werden!“
Hier hat der Empfänger nur mit dem Selbstoffenbarungs-Ohr gehört. Ermöglicht wird dadurch aber auch das aktive Zuhören (siehe >Thomas Gordon). Das Selbstoffenbarungs-Ohr wird benutzt, um sich in das Gegenüber einzufühlen. In einer Gesprächstherapie wird die Methode benutzt, um dem Sender Rückmeldung über dessen Einstellung zu gegeben.
 
Das Appell-Ohr
 
A: „Das Wetter ist schön!“
B: „Ja, wir können spazieren gehen!“
 
Der Empfänger ist hier nicht bei sich selbst. Er tut, was man von ihm will. Ein aggressiverer Zeitgenosse würde dann jeder Botschaft eine Absicht unterstellen.
 
Wie entstehen Missverständnisse?
 
Werden Botschaften auf einer oder mehreren Ebenen falsch interpretiert, entstehen Missverständnisse. Sie werden durch eine einseitige Kommunikation begünstigt. Weitere Ursachen können sein:
  • Die Begriffsbildung von Worten ist verschieden.
  • Der Empfänger besitzt ein negatives Selbstbild. Dann werden Botschaften zur Bestätigung des negativen Selbstbildes regelrecht gesucht.
  • Der Empfänger besitzt Vorurteile über den Sender. Lehrer: „Na, was hast du gerade gemacht?“; Schüler: „Wieso fragen sie?“. In diesem Fall hat der Schüler ein Vorurteil gegenüber dem Lehrer, z.B. „Alle Lehrer kontrollieren“.
  • Eine Botschaft besitzt immer den Charakter, dass andere Botschaften mitgehört werden (korrelierende Botschaften). Mann: „Ich mag dich!“; Frau: "Du willst ja nur etwas von mir!“
Bei korrelierenden Botschaften empfiehlt sich der Einsatz von Metakommunikation, z.B. „Ich habe das so gemeint!“ Notfalls setzt man eine Reflexion über das Gespräch ein:
  • Welche Botschaften wurden versendet?
  • Wurden die Botschaften verstanden?
  • Was wurde nicht gesagt?
  • Was ist noch zu sagen?
Zur näheren Analyse, wie Reaktionen beim Empfänger zustande kommen, ist es hilfreich, sich die einzelnen Schritte der Aktionen und Reaktionen vor Augen zu halten. Wenn zum Beispiel ein Gesprächspartner plötzlich Stirnrunzeln zeigt, könnte dies als Zeichen für eine persönliche Missbilligung des Gegenübers verstanden werden. Das Stirnrunzeln löst vielleicht Gefühle wie Wut und Enttäuschung aus und die resultieren Reaktion wäre dann: „Mach doch nicht so ein angewidertes Gesicht!“ Hätten die Beteiligten der Reihe nach alle Schritte verbal unterlegt, wäre es vielleicht gar nicht bis zu dieser Äußerung gekommen, da die Situation entschärft wurde.
 
Interpretationen erfolgen oft aufgrund eigener Phantasien und sind dann unzutreffend. Daher sollten Phantasien immer mitgeteilt werden. Eine Aussprache ist sehr empfehlenswert: „Ich meine, du siehst das so, stimmt das?“Durch das Mitteilen von Gefühlen entsteht ein enger Kontakt. Ein ehrliches Feedback ist immer die beste Möglichkeit, um Missverständnissen vorzubeugen. „Ich fühle mich verletzt!“ ist ehrlicher als „Sie haben mich beleidigt!“. Im letzteren Fall leugnet der Empfänger seinen eigenen Anteil am Gefühl.
 
Interaktion ist immer gegenseitig, jeder ist beteiligt. Die Beschimpfung „Er ist ein Dauerredner!“ kann nur solange aufrechterhalten werden, solange einer zuhört. Die Frage, wer in einem Streit angefangen hat, ist gänzlich unbeantwortbar, weil Kommunikation kreisförmig ist. Sie unterliegt einer Eigendynamik und kann nicht vorprogrammiert werden. Nicht nur die Frage nach der Person, sondern auch nach den Spielregeln der Kommunikation spielt eine große Rolle.
 
Beurteilung des Modells nach Schulz von Thun
 
Das Modell von Schulz von Thun liefert wichtige Werkzeuge zur Kommunikation. Es ermöglicht das Hören mit vier Ohren und führt zu einer differenzierteren Auseinandersetzung bei Problemen. Das Beachten von bestimmten Regeln (z.B. das Aussenden von kongruenten Botschaften, Äußern von Phantasien und Gefühlen, Reflexionen über das Gespräch, usw.) ermöglicht einen Umgang mit Konflikten, ohne dass diese eskalieren. Das kooperative Konfliktlösungsmodell setzt die aktive Mitarbeit der Beteiligten und einen gewissen Grad der Wahrnehmungsfähigkeit voraus. Bei festgefahrenen Vorurteilen oder bei einem völlig unreflektierten Persönlichkeitbild eines Beteiligten tut sich das Modell schwer. Im Berufsleben oder in der Schule fehlt oft auch die Offenheit und das Vertrauensverhältnis für einen ehrlichen Umgang miteinander.


Literatur

Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden, Band 1, Rowohlt-Taschenbuch 


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