Gesprächsanlässe Peter Buck, E-Mail: buck@ph-heidelberg.de Anschaulichkeit gilt in der Naturwissenschaftsdidaktik
als erstrebenswertes Prinzip. Wir hätten gerne eine einfache, naive,
unkomplizierte Anschaulichkeit wie in unseren Kindertagen: die Dinge zum
Anfassen und zum damit Spielen. Nun sind aber die naturwissenschaftlichen
Begriffe und Zusammenhänge meist abstrakt; aus dieser Sehnsucht nach
dem Anschaulichen erwuchs eine Fachdidaktik, die auf Modelle setzte, die
Modelle kultivierte – aber diese nicht (ausreichend) reflektierte.
Was ergab sich aus diesem verständlichen,
aber in vielen Fällen in die Irre leitenden Ansatz? Eine weltweite
Trivialisierung der Atomistik („anschauliche“ Kügelchen statt ein
Verständnis von der „Andersweltlichkeit“ (R. FLADT) der Atome, völlig
missverständliche Vorstellungen von den naturwissenschaftlichen Begriffen
Energie und Entropie, u.s.w.. Die Begriffsbildung bleibt in diesen Fällen
beim Anschaulichen stehen und führt nicht weiter in die notwendige
Abstraktion. Veranschaulichung, unreflektierte Modelle sind somit durchaus
auch kontraindiziert für den Lernprozess abstrakter Begriffe. Abstraktion
aber heißt: Abziehen von der visuellen Anschauung, vom Anfassen und
auf der Haut spüren können. Abstraktion heißt: Abschied
nehmen von den visuellen und materiellen Bildern. Abstraktion heißt:
Dekonstruieren von solchen Vorstellungen, Auflösen von „Modellen“,
bis der Kasten sozusagen leer ist, und nur noch ein (verlässlicher,
aber eben unanschaulicher) abstrakter Begriff übrig geblieben ist.
Diesen Zustand kann ein Anfänger wohl nicht in einem Direttissima-Anstieg
erreichen; er wird die Anschauungshilfe vorübergehend benötigen.
Aber er muss sie auch wieder abbauen, überwinden können. Sonst
bleibt der Lernprozess auf halber Strecke stehen. Dies ist der durchgängige
Befund einschlägiger Untersuchungen.
Solche Dekonstruktionsbemühungen stehen im Mittelpunkt des Projekts „Gesprächsanlässe“. Es ist insofern im Bereich der Medienentwicklung anzusiedeln, als konkrete Objekte und Installationen für den gezielten fachdidaktischen Einsatz entwickelt werden. Von den herkömmlichen Medien unterscheiden sie sich aber insofern, als diese Objekte und Installationen gerade auf Befremden, auf Distanzierung und Aporien hin entwickelt werden, um die Kluft zwischen trivial (d.h. alltagssprachlich) verstandenen Fachbegriff und dem Fachbegriff als Abstraktum überspringen zu können. Solche Objekte und Installationen transportieren also nicht Informationen über Begriffsinhalte, sondern bereiten auf eigentätige [Fach]Begriffsbildung vor. Das Gespräch über solche Objekte ist unerlässlich, daher werden solche „Objekte“ als Gesprächsanlässe bezeichnet. Zahlreiche Objekte wurden bisher entwickelt. Sie wurden im Chemieunterricht der Sekundarstufe I in der Hochschullehre und bei Lehrerfortbildungen eingesetzt. Nachstehend wird ein typisches und häufig eingesetztes Objekt beschrieben und gezeigt: Ein kleiner Holzkoffer, geschlossen, steht
auf dem Tisch. Um ihn sitzen drei Schülerinnen, zwei Schüler
und ein Lehrer. Auf dem Deckel des Holzkoffers ist ein Etikett geklebt:
Was auf dem Koffer steht ist ernst gemeint,
ist "wahr". Es sind tatsächlich 5,4 × 1026 Protonen,
ebensoviele Elektronen und 5,6 × 1026 Neutronen in diesem
Koffer; der Lehrer hat sich Mühe gegeben, diese Zahl so gewissenhaft
wir nur möglich zu ermitteln. Er stützt sich mit der Hand auf
dem Deckel des Koffers. Völlig unklar ist diesen Neuntklässlern,
was 5,4 × 1026 Protonen bedeutet. Wirklich vorstellbar
ist das auch nicht, aber was es meint, kann hingeschrieben werden: Es handelt
sich um die Anzahl 540 000 000 000 000 000 000 000 000. Eine ziemlich große
Zahl also. Gelegentlich fragt ein Schüler, wie man eine so große
Zahl überhaupt ermitteln kann, denn Zählen scheint bei dieser
Größe ja ausgeschlossen. „Man rechnet sich das aus; man zählt
nicht eins nach dem anderen.“ – das genügt meist als Antwort. Also
5,4 × 1026 Protonen, ebensoviele Elektronen und 5,6 × 1026 Neutronen sind in diesem Koffer – das kann als verbürgt
gelten. Was aber werden wir sehen, wenn wir den Deckel aufmachen? „Nichts!“ „Kugeln vielleicht, so Styroporkugeln!“ „Oder einfach nur Luft, denn 'nichts'
kann ja nicht drin sein; da sind doch Ritzen im Deckel!“ Einer hebt den
Koffer ein wenig an: „Nein, da is'n Stück Eisen drin!“ „.. oder ein
Backstein...“ „Da kann einfach alles drin sein!“ – Meist ist eine oder
einer dabei, die diesen Gedanken vorbringen. Gegenfrage: „Was meinst du
mit 'alles'?“ „Na, alles, weil doch alles aus Protonen, Neutronen und Elektronen
besteht!„ Das war ja auch der Lehrstoff der vorangegangenen Stunde. „Aber
leuchtet das allen ein?“ „Ja, eigentlich einleuchtend!“ „Was stellst du
dir also vor, was du sehen wirst, wenn ich den Koffer aufmache?“ „Einen
Backstein.“ „So Holzkugeln, die sind schwerer als Styropor.“ „Ein Stück
Eisen“ „Und du?“ – „Ich weiß nicht – alles einfach!“ „Und du?“– „Was der Markus sagt: ein Backstein vielleicht.“ Wir machen den Koffer
auf. Alle fünf sind doch einigermaßen überrascht, was sie
sehen:
(Durchweg immer sind die Schüler
an dieser Stelle überrascht, obwohl sie zum Teil doch schon verstanden
haben, um was es geht.) Dieses Das-kann-doch-alles-sein! war meist ein
abstrakter Gedanke, graue Theorie also, nicht das bunte Leben. Und die
regelmäßig vorgeschlagenen Kugeln oder Eisenstücke oder
andere einfache Füllungen spiegeln was die Schüler in ihrem Chemieunterricht
erleben: sie sind gewohnt an einfach, simple, modellhafte und konstruierte
Lösungen, die Vielfalt kommt selten (oder gar nicht) vor. Was es heißt:
Alles besteht aus Protonen, Neutronen und Elektronen – dieses Stück
Koralle, diese Fischdose, dieses Katzenbüchlein, der abgebrochene
Oberschenkelknochen links – alle Gegenstände, auch unsere menschlichen
Körper, sogar die Luft: alles ist aus Protonen, Neutronen und Elektronen
aufgebaut. Sie selber können nicht vielfältig, bunt, hart, elektrisch
leitend usw. sein. Sie sind aus einer anderen Welt, in der es wohl nur
ganz wenige Eigenschaften geben kann. Protonen, Neutronen und Elektronen
sind keine Gegenstände, keine Stoffe, sondern machen erst die Gegenstände,
die Stoffe. Wenn das erlebt ist, hat der Koffer seine wichtigste Aufgabe
erfüllt. Man kann den Deckel wieder zumachen. Vertiefend können
wir zusammen der Frage nachgehen, wie der Lehrer denn auf diese angegebenen
Zahlen gekommen ist. Er kann dies einfach nur an einem Beispiel, zum Beispiel am
Aragonit-Kristall erklären, oder man kann dies mit der Gruppe gemeinsam
tun. Es ist eigentlich nicht schwer: Man braucht Kenntnis von der Masse
eines Protons, Elektrons und Neutrons, die atomare Zusammensetzung und
das Gewicht der einzelnen Stoffportionen und die Protonen/Neutronenverhältnisse
der betrachteten Atomsorten. Danach ist alles nur noch (gelegentlich mühsame,
aber nicht schwierige) Rechnerei.
Wie ein Unterricht über Atome auch noch aussehen kann, findet man
in dem Buch „Der Sprung zu den Atomen“. Dort ist der beschriebene Koffer
Titelbild des Buches.
Buch bestellen Bisher
wurden verschiedene Ausstellungen solcher Objekte veranstaltet:
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