Der Positionenstreit
um den Atombegriff
Standpunkt zum Beitrag in „Chemie
in der Schule“ 2/98 [22]
Thomas Seilnacht
Dass heute ein Unterricht über Atome
vor allem auch den Systembegriff ausführlich beleuchtet, war nicht
immer selbstverständlich. In einigen Zeitschriften der Chemiedidaktik
fand in den 1990er-Jahren eine Diskussion über gängige Modell-
und Begriffsvorstellungen der Atome statt. In Peter Bucks Text Die Teilchenvorstellung
– ein Unmodell [1] hinterfragte Buck die im Chemieunterricht gängigen
Modellvorstellungen. Seine Kritik richtete sich an die angeblich anschaulichen
Modelldarstellungen. Das vielerorts im Chemieunterricht verwendete Teilchenmodell
sei in Frage zu stellen. Aggregatzustände könnten nicht mit Hilfe
eines „Billiardkugeleffekts“ erklärt werden. Das Teilchenmodell vernachlässige
die tatsächlichen Kraft- und Raumbeziehungen. Genauso fehlerhaft sei
das Teilchenmodell im Zusammenhang mit dem Mischen von Flüssigkeiten
und dem beobachbaren Phänomen der Volumenkontraktion und -expansion,
da die Volumenveränderungen ein Ergebnis der Wechselwirkung zwischen
den Atomen sei.
Christen und Baars antworteten darauf,
dass vereinfachte Modellvorstellungen im Anfangsunterricht legitim seien,
da der Anfänger anschauliche Modelle benötige [4]. Durch einen
systematischen Lehrgang würde im nachfolgenden Chemieunterricht durch
immer differenziertere Modelle eine Annäherung an die „Wirklichkeit“
erfolgen.
Die Ansicht von Christen und Baars wurde
von mir 1998 kritisiert, da „gerade
die vereinfachenden Modellvorstellungen bei den Schülern und Schülerinnen
des Anfangsunterrichts irreparable und falsche Vorstellungen über
den Aufbau der Natur festsetzen“ [22]. Müller [Rehm] widersprach ebenfalls
der Darstellung von Christen und Baars und stellte vor allem die Auffassung
des Erkenntnisweges „Vom Falschen zum Richtigen“ in Frage [5].
Wobbe de Vos übte im Hinblick auf den
Eisensulfidversuch Kritik an den Teilchenvorstellungen, er forderte die
Konzentration der Aufmerksamkeit auf Reaktionsprozesse – und nicht ausschließlich
auf Reaktionsprodukte [7, S. 42f., vgl. auch 8, 9, 10, 11, 12, 13].
Zankapfel war auch ein Beitrag von Haupt [16]:
Er beschrieb einen Unterricht, in dem er eine Flasche Salzsäure auf
den Tisch stellte und die Schüler fragte: „Was ist in der Flasche?“.
Als Antwort erhielten die Schüler ein Gefäß, das mit Kugelmodellen
gefüllt war.
Diese Ansicht wurde von mir besonders
scharf kritisiert: „Wo ist der Alltagsbezug, wenn sie meinen, in der Salzsäure
schwimmen farbige Kügelchen, deren Farbe man wohl deshalb nicht sehen
können soll, weil sie „so winzig klein“ sind? Dies sehe ich als eine
ziemlich extreme Verfremdung von der Lebenswirklichkeit, und nach meinen
Erfahrungen schalten Schüler aus diesem Grund bei einem derartigen
Unterricht fast immer ab, wenn es sich nicht gerade um Chemiefreaks handelt
[22].
Löffler [17] argumentierte, dass die
Andersweltlichkeit der Atome nicht abstrahiert werden kann, sondern es
müsse ein „Sprung“ gemacht werden. Nach Buck kann die Wesenswelt der
Atome nicht durch eine Ableitung aus vielen Merkmalen plausibel gemacht
werden, sondern der Sprung müsse mitgeteilt werden. Buck verdeutlicht
das Prinzip der Systemverschachtelung anhand von Dias der wahrnehmbaren
Welt [vgl. 15] und fragt dann die Schüler: „Und jetzt, wie ist es
wohl mit den Atomen?“.
Wie ich mir einen Unterricht über
Atome vorstelle, wurde später im Buch Der Sprung zu den Atomen ausführlich
dargestellt. Im Zeitschriftenartikel von 1998 beschrieb ich fragmentarisch,
wie Buck seinen Unterricht über Atome einführte. Ich wies vor
allem auf Rüdiger Fladts Begriff der „Andersweltlichkeit“ [18] hin
und verwendete ihn seither. Eine Gemeinsamkeit im Hinblick auf den Unterricht
von Peter Buck, Markus Rehm [früher Müller] und mir war die Einführung
eines Systembegriffs. Buck verwendete ein Regal, Rehm [19] ein Fahrrad
und ich die Komponenten eines menschlichen Körpers. Aus dieser Gemeinsamkeit
ist das Buch Der Sprung zu den Atomen erschienen, wo ein Unterricht über
die Systeme ausführlich dargestellt wird [23].
Literatur:
[1] Buck, P. : Die Teilchenvorstellung
- ein „Unmodell“, In: Chemie in der Schule 41 (1994) 11
[2] Müller, M.: Der „Modellversuch
zur Volumenkontraktion“ – ein untaugliches Hilfsmittel, In: Chemie in der
Schule 42 (1995) 3
[3] Kullmann, K.: Was erklärt der
„Modellversuch zur Volumenkontraktion“ wirklich?, In: Chemie in der Schule
41 (1994) 12
[4] Baars, G. und Christen, H.R.: Die
Teilchenvorstellung – ein Unmodell?, In: Chemie in der Schule 42 (1995)
3
[5] Müller, M.: Das Unmodell der
Teilchen – Kritik an der Kritik, In: Chemie in der Schule 42 (1995) 9
[6] Capra, F.: Wendezeit, Bern/München/Wien,
1982
[7] de Vos, W.: Vernachlässigte Aspekte
des Reaktionsbegriffs im Anfangsunterricht des Faches Chemie, In: Minssen,
M., u.a. (Hg.); Strukturbildende Prozesse bei chemischen Reaktionen und
natürlichen Vorgängen, IPN, Kiel
[8] Buck, P.: Reaktion von Schwefel mit
Eisen – Ein „Unversuch“ –, In: Chemie in der Schule 40 (1993), S. 90...92
[9] Hüttner, R.: Kaugummiaroma versus
Eisensulfid, In: Chemie in der Schule 40 (1993), S. 356...359
[10] Hauschild, G.: Die Reaktion von Schwefel
und Eisen - für mich ein brauchbarer Versuch, In: Chemie in der Schule
40 (1993), S. 339...342
[11] Flad, W.: Eisen plus Schwefel – und
was dann?, In: Chemie in der Schule 40 (1993), S. 473
[12] Piosik, R.: Die Reaktion von Schwefel
mit Eisen ist kein „Unversuch“, In: Chemie in der der Schule 40 (1993),
S. 379...380
[13] Christen, H.R.: Nochmals die Eisensulfid-Synthese,
In: Chemie in der Schule 41 (1994), S. 70...71
[14] Schummer, J.: Zwischen Wissenschaftstheorie
und Didaktik der Chemie: Die Genese von Stoffbegriffen; In: chimica didactica
2/95
[15] Buck, P.: Wie kann man die Andersartigkeit
der Atome lehren?, In: Chemie in der Schule 41 (1994) 12
[16] Haupt, P.: Chemikalienmodelle, PdN-Chemie
8/44, Jg. 1995
[17] Löffler, G.: Über die Grundlegung
einer Verständigung über den Begriff des Atoms, In: chimica didactica
3/1996
[18] Buck, P., Fladt, R.: Ein Dialog über
die Funktion der Teilchenmodelle im Chemie- unterricht, In: Chemie in der
Schule 43 (1996) 2
[19] Müller [Rehm], M.: „Erziehung“
in einer vom Fachwissen dominierten Schulpraxis?, In: chimica didactica
1/1997
[20] Piaget, J.: Das Erwachen der Intelligenz
beim Kinde, Stuttgart 1969
[21] v. Hentig, H.: Das allmähliche
Verschwinden der Wirklichkeit, München 1984
[22] Seilnacht, T.: Der Positionenstreit
um den Atombegriff im Chemieunterricht, In: Chemie in der Schule 2/98
[23] Buck, P., Seilnacht, T., Rehm [Müller]:
Der Sprung zu den Atomen, Bern 2004
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