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Organische Chemie im Unterricht
Systematik versus Exemplarik? Rollenspiel von Thomas Seilnacht
In vielen Lehrbüchern der Chemie und in den meisten bisherigen Lehrplänen wurde das Thema systematisch verfolgt und unterrichtet, man begann mit den einfachen Stoffgruppen wie mit den Alkanen und schritt dann immer weiter bis zu den komplizierten Verbindungen voran. Neuerdings wird dieses Verfahren jedoch in Frage gestellt, da das konsequente, systematische Fortschreiten im Unterricht oft zu einem Verlust an Lebensnähe führt und die Schüler dann nicht mehr den (Lebens-)Sinn des Unterrichts verstehen. Sie schalten ab, und sobald sie einmal den Faden verloren haben, verstehen sie nicht mehr die Zusammenhänge. 
  
Das exemplarische Prinzip setzt den Schwerpunkt auf bestimmte, ausgewählte Themen, an denen die Grundprinzipien der organischen Chemie verdeutlicht werden können. Es beginnt beispielsweise bei den Alkoholen und baut um das Thema herum immer mehr Netzfäden, so dass die Zusammenhänge allmählich wachsen, ähnlich wie das organische Wachstum einer Pflanze. Die Grundgedanken dieses Unterrichtsprinzips stammen von Martin Wagenschein. Er spricht von „Plattformen“, auf denen eine konzentrierte Lehr- und Lernphase stattfindet.
  
Zur Verdeutlichung der Positionen kann man das fiktive Rededuell zwischen zwei Kandidaten für die Bundeskanzlerwahl in Deutschland lesen oder downloaden. Das Rollenspiel eignet sich auch für Fortbildungsveranstaltungen. Das Duell sollte an Rednerpulten gelesen werden, die Kandidaten tragen Anzüge. 
   
Rededuell: Systematik versus Exemplarik

Vorwort:
Erstmals in der Geschichte der deutschen Politik fanden im September 2002 vor den Bundestagswahlen im Fernsehen zwei 90minütige Rededuelle der beiden Kandidaten statt. Leider fand das Thema „Bildungspolitik“ in der Diskussion nicht die von der Bevölkerung gewünschte Beachtung, obwohl Deutschland in zwei vorangegangenen Vergleichsstudien international schlecht abgeschnitten hatte. Vielleicht, weil sich die Kandidaten nicht so sehr unterschieden. Die nachfolgend beschriebenen Kandidaten unterscheiden sich grundsätzlich, die Argumentationen sind jedoch in Bezug auf die politischen Parteien rein fiktiver Art.  
   
Frau Christiansen:
 
 
„Wir begrüßen Sie, liebe Zuschauer, und die beiden Kandidaten zu unserem Fernseh-Rededuell. Wie die neusten wissenschaftlichen Studien ergeben haben, befindet sich unser Land wieder einmal in einer schweren Bildungskrise. Wenn Sie Bundeskanzler wären, Kandidat Nr. 1, was würden Sie ändern oder besser machen?“  
   
Kandidat Nr. 1:  
Dass eine Bildungskrise in unserem Land besteht, da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Schüler können heute kaum noch richtig rechtschreiben oder beherrschen auch nicht mehr das Einmaleins. Die Ausdrucksfähigkeit lässt stark zu wünschen übrig, heute findet ein Personalchef eines deutschen Betriebs kaum noch geeignete Azubis. Wir müssen uns daher wieder auf das Altbewährte besinnen. Die Menschen brauchen wieder eine Orientierung, das gibt ihnen Sicherheit und Vertrauen. Ich möchte dazu aus meiner Schulgeschichte erzählen: Im Fach Biologie hatte alles seine Ordnung: Zuerst lernten wir die Einzeller kennen und den Aufbau der Zelle. Dann kamen wir zu den Pflanzen, dann zu den Tieren, den Würmern, den Insekten, den Fischen, den Amphibien, den Reptilien, den Vögeln und schließlich zum Menschen. Alles hatte seine Ordnung, alles kam der Reihe nach, das gab mir Sicherheit und Selbstvertrauen. Im Schulbuch stand es genauso und ich konnte das, was ich nicht verstand, auswendig lernen. So lernte ich auch die Rechtschreibung in Diktaten, es herrschte überall Disziplin und Ordnung. Heute wird an den Schulen vielerorts leider nicht mehr so unterrichtet. Die Disziplin im Unterricht lässt stark zu wünschen übrig und bei dem vielen mal hier, mal dort, weiß ein Schüler heutzutage kaum noch, woran er sich überhaupt orientieren soll. Daher plädiere ich für eine Rückbesinnung auf die traditionellen Werte, die unserem Land bisher zum Wohle gedient haben.  
   
Frau Christiansen:  
Was würden Sie ändern oder besser machen, Kandidat Nr. 2?  
   
Kandidat Nr. 2:  
Dem, was Kandidat Nr. 1 gesagt hat, kann ich überhaupt nicht zustimmen. Ich behaupte sogar, dass die heutige Bildungsmisere ein Produkt von dieser Bildungspolitik ist, wie sie Kandidat Nr. 1 geschildert hat. Aber dazu später mehr...  
   
Kandidat Nr. 1:  
Aber das ist doch die Höhe, wir haben schon immer gesagt, wir in Deutschland...  
   
Frau Christiansen:  
Bitte halten Sie sich an die Regeln, Kandidat Nr. 1, zunächst darf Kandidat Nr. 2 sein Plädoyer beenden, dann dürfen Sie sich streiten...  
   
Kandidat Nr. 2 (fährt fort):  
Wir haben es heute mit einer völlig neuen Situation zu tun: Wir in Deutschland wissen heute mehr denn je über andere Kulturen, auch das halte ich für ein erstrebenswertes Bildungsziel. Und die Schulen sind nicht mehr das, an was sich die Schülerinnen und Schüler orientieren, da spielen der Freundeskreis und vor allem die unglaubliche Vielfalt der Medien eine viel größere Rolle. Ich möchte behaupten, dass eine Bildungspolitik, die sich ausschließlich auf die bisherigen, traditionellen Konzepte beruft, völlig Schiffbruch erleidet. Ein Schüler kann heute gar nicht mehr die gesamte Systematik der Biologie oder Chemie beherrschen. So viel Neues kam in unserem Wissensbild über die Welt hinzu, ganz davon abgesehen, welche Anforderungen aus der persönlichen Umgebung der Schülerinnen und Schüler an sie gestellt werden. Daher plädiere ich für eine Öffnung der Schulen zu neuen Lern- und Lehrmethoden. Die Bildungsmisere kann nur wirksam bekämpft werden, wenn wir die Stofffülle an den Schulen radikal kürzen und das Wesentliche an ausgewählten Themen aufzeigen...  
   
Kandidat Nr. 1:  
Sie wollen also allen Ernstes wichtige Themen in der Schule weglassen? Wo bleiben dann die von Ihnen oft propagierten Bildungsziele einer notwendigen Allgemeinbildung? Gerade dafür benötigen wir doch allgemeingültige Prüfungen und einen möglichst vergleichbaren Wissensstand. Wir können und dürfen auf den systematischen Fortgang im Unterricht nicht verzichten. Wie wollen Sie zum Beispiel das System der Stoffe im Chemieunterricht verstehen, wenn die Schüler nicht über Atome, dann über Bindungsarten, dann über die Systematik der organischen Chemie unterrichtet werden, alles hängt zusammen, eines baut auf dem anderen auf und auf dieses systematische Fortschreiten können wir ganz und gar nicht verzichten...  
   
Kandidat Nr. 2:  
Zunächst einmal sollte man vielleicht klarstellen, was unter dem Begriff „Verstehen“ zu meinen ist und vor allem wie ich es definiere. Verstehen im Sinne einer Allgemeinbildung heißt für mich nicht – um eine Metapher des von mir viel zitierten Martin Wagenscheins zu verwenden – in dem Vollfüllen möglichst großer Koffer. Die Schüler sind keine keuchenden Kofferträger, die wertvolle Lasten tragen. Denn irgendwann platzen die Koffer und entleeren sich. Und dann soll die Parole trotzdem heißen: „Weiter!“ Nein so darf es nicht sein. Wir müssen uns gerade an den Schülern orientieren, die nicht Chemie studieren, die nicht Biologie studieren. Sie, Kandidat Nr. 1, sind doch ein Anhänger der griechischen Geschichte. Heraklit hat einmal gesagt, Vielwisserei garantiere noch lange keine Einsicht...  

Kandidat Nr. 1:
 
 
Tja, leider kennt heute kein Schüler mehr die griechische Geschichte. Und es kommt in unseren Schulen noch schlimmer, wenn Sie, Kandidat Nr. 2, Bundeskanzler wären: Die Schule propagiert nur noch ein bisschen von dem und ein bisschen von dem. Aber eine Übersicht über das Ganze geht vollständig verloren...  
   
Kandidat Nr. 2:  
Das ist ja gerade der Irrtum, wenn man glaubt, man müsse das Ganze als Summe seiner Teile lehren. Ich sage: Wir müssen das Ganze in jedem Teil für sich lehren, denn das Ganze steckt in jedem Teil der Natur verborgen. Ist es nicht faszinierend, wie das Phänomen des Regenbogens zustande kommt? Wenn die Schüler dies begreifen, dann verstehen sie einen Teil der Natur und haben gleichzeitig auch schon ein Stück des Ganzen in sich aufgenommen.  
   
Kandidat Nr. 1:  
Das ist eine wunderschöne Theorie, doch leider versagt ihre Theorie in der Praxis. Wie sollen die Schüler dann eine Prüfung überhaupt noch bewältigen?  
   
Kandidat Nr. 2:  
In dem ich Bundeskanzler werde und die Prüfungsmodifikationen ändere. Aber nun im Ernst: Verstehen lehren heißt für mich eben, Einsichten am einzelnen, Exemplarischen zu gewinnen. Gelingt dies, wird der Lernende selbst aktiv und wir brauchen eigentlich gar keine Lehrer mehr.  
   
Kandidat Nr. 1:  
Also brauchen wir auch keine deutsche Rechtschreibung und Grammatik mehr? Das wollen Sie doch sagen? Kann man Sie dem deutschen Volk wirklich als zukünftigen Bundeskanzler zumuten?  
   
Kandidat Nr. 2:  
Ich sehe das anders, Sie kann man nicht zumuten, denn Sie haben in ihrer Schule damals wohl gut auswendig gelernt aber nicht verstanden. Ich habe die deutsche Rechtschreibung jedenfalls nicht in Diktaten gelernt, sondern weil mich das Fach Geschichte so interessiert hat, dass ich einen Text nach dem anderen gelesen habe. Aus diesem Grund bin ich auch Kandidat geworden und stehe hier in dieser Sendung...  

Frau Christiansen:  
„Nun, die Zeit ist um, und wir sind gespannt, wie die nächste Wahl ausgeht. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.“ 

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