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Die Hitze zehrt am Gletschereis
Mit freundlicher Genehmigung und Unterstützung Walter Däpp
Artikel und Interview erschienen in der Zeitung Der Bund am 18.8.2003, Seite 2
 

Hitze, Trockenheit, Gletscherschwund: Sind derart heiße Sommer bald Normalität? Der Sommer 2003 passt jedenfalls „genau in die Szenarien, wonach Extremsituationen häufiger werden“, sagt der Berner Geografieprofessor Hans Kienholz.
 
Das gegenwärtig enorme Abschmelzen der Gletscher ist für Professor Hans Kienholz, Geomorphologe und Spezialist für Naturgefahren im Geografischen Institut der Universität Bern, fatal. „Dies bedeutet“, sagt er, „dass ein weiterer Teil unseres Wasserspeichers, eines für uns großen Kapitals, schwindet. Wir leben im Moment also gewissermaßen von den Zinsen: Wir zehren nicht von dem im vergangenen Winter auf den Gletschern abgelagerten Schnee, sondern von der Substanz, vom Gletschereis selber, die Masse der Gletscher nimmt massiv ab.“
 
Dies freue im Moment zwar die Kraftwerke, weil sie mit dem vielen Schmelzwasser aus den gefüllten Stauseen günstig weit herum gefragten und deshalb teuren Sommerstrom produzieren könnten, doch auch ihnen sei natürlich bewusst, dass sie dabei einen Teil ihres – in Form von Gletschereis gespeicherten – Kapitals verzehren.
 
 
Sehr viel Gletscherwasser
 
In den Gletschern fließe derzeit auch in tiefen Bereichen sehr viel Schmelzwasser. Dieses erwärme das umgebende Gletschereis, so dass derzeit sehr viel Gletscherwasser sehr schnell abfließe – in die Bäche: „Zum Beispiel die von Gletschern gespeiste Lütschine ist derzeit platschvoll, die Emme dagegen, die nicht aus einem Gletscher-Einzugsgebiet kommt, ist bloß noch ein Rinnsal.“
 
Kienholz sorgt sich zwar um das derzeit stark Schwinden des Gletschereises, gleichzeitig relativiert er aber auch: Es gebe immer wieder mal heiße und trockene und dann wieder niederschlagsreiche Sommer. Der Sommer 2003 sei zwar sehr extrem, er sprenge alle bisherigen Werte. Doch ein einzelner extremer Sommer dürfe nun nicht einfach mit dem Klimawandel gleichgesetzt werden, doch: „Er passt aber genau in die Szenarien, wonach Extremsituationen häufiger werden dürften.“
 

Die Variabilität des Klimas
 
Die Arbeitsgruppe Naturgefahren des Kantons Bern, der auch Professor Hans Kienholz angehört, hat in einer Broschüre über Klimawandel und Naturgefahren vor zwei Jahren prophezeit, mit der „treibhausbedingten Zunahme der sensiblen und latenten Energieanteile in der Atmosphäre“ würden künftig auch Extremereignisse zunehmen. Einzelnen Naturereignissen sei allerdings nicht viel Bedeutung beizumessen: „Das Klima hatte und hat eine sehr große Variabilität, und das wird auch in Zukunft nicht anders sein. Unabhängig von der globalen Erwärmung sind deshalb sowohl Anzahl als auch Intensität von Extremereignissen starken Schwankungen unterworfen, und der generelle Trend ist in manchen Bereichen nur sehr schwer erkennbar.“
 
Ein Faktum sei aber die globale Klimaerwärmung: Die mittlere Oberflächentemperatur der Erde werde weiter ansteigen – im Extremfall um mehr als 5 Grad Celsius bis ins Jahr 2100.
 
 
Gletscher werden verschwinden
 
Diese Klimaerwärmung wird in der Schweiz eben gerade an den Gletschern sichtbar. „Wenn ich etwa den Aletschgletscher betrachte“, sagt Kienholz, „den massiven Rückgang seiner Mächtigkeit, dann tut mir das weh. Es ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren viele kleine Gletscher verschwinden werden.“
 
Im Gebirge führe auch das Auftauen des Permafrosts – des ganzjährig gefrorenen Bodens oder Untergrund – zu Problemen. Dass die Permafrostschicht im Sommer an ihrer Oberfläche auftaue, sei üblich. Doch in diesem heißen Sommer werde diese Schicht bis in tiefere Bereiche hinein aufgetaut, was zu zusätzlichen Instabilitäten von Hängen und Felsen führen könne. „Im Fels zum Beispiel“, sagt Kienholz, „können zugefrorene Klüfte auftauen. Sie werden dann bis in tiefere Bereiche erneut mit Wasser gefüllt, und wenn sie wieder gefrieren, wird auch dort die Verwitterung durch die Frostwechsel intensiver.“ Tendenziell führe dies zu vermehrten und allenfalls größeren Steinschlagphänomenen. Die Arbeitsgruppe Naturgefahren des Kantons Bern sei zum Schluss gekommen, dass „weite Bereiche oberhalb der Waldgrenze, in denen der Boden bislang das ganze Jahr hindurch gefroren blieb, auftauen werden.“
 
 
Gibt es Überschwemmungen?
 
Nach dem heißen und trockenen Sommer 2003 befürchtet Hans Kienholz nun bei plötzlichen heftigen Niederschlägen Überschwemmungen. Die „Feinporen“ des Bodens, die Bereiche, die von einer Pflanzenwurzel erschlossen werden können, seien heute mehr oder weniger ausgetrocknet – und zwar so, dass sie bei heftigem Regen nicht in der Lage seien, das Wasser aufzunehmen. Auf tonig-lehmigem Boden seien jedoch oft Schrumpfrisse aufgebrochen: Diese würden, zusammen mit anderen Makroporen (Wurmgänge, usw.) sogleich mit Wasser aufgefüllt, das dann sehr schnell zirkuliere und mit nur geringer Verzögerung in den nächsten Bach gelangen könne. Weil gleichzeitig die Feinporen kaum Wasser aufnehmen können, kommt es zu einem sehr schnellen Abfluss des Wassers – was lokal zu Rutschungen und Hangmuren und schließlich zu Hochwasser führen kann. Kienholz hofft nun auf eine „sanfte, längere Regenperiode“ – so, dass sich „das System anpassen und allmählich wieder Wasser aufnehmen kann.“
 
 
Schleichende Veränderungen
 
Grundsätzlich relativiert er jedoch die Folgen einzelner Extremereignisse wie eben des Hitzesommers 2003. Gravierender seien die schleichenden Veränderungen. In der Schweiz werde man vor allem mit wärmeren und feuchteren Wintern zu rechnen haben: Die Schneegrenze steige an, die Gletscher zögen sich weiter zurück, die Gebiete mit Permafrost würden kleiner, bei intensiven Niederschlägen nehme die Gefahr von Hochwassern und Massenbewegungen (Steinschläge, Felsstürze, Bergstürze, Hangrutschungen) zu.
 
Es sei wichtig, diese Gefahren früh zu erkennen und zu beurteilen, ihre Risiken zu mildern. Wobei dies allerdings nur Symptombekämpfung sei. „Ursachenbekämpfung wäre besser“, sagt Kienholz, „doch dann sind auf allen Ebenen Maßnahmen nötig.“ Seit Jahrzehnten warnten Wissenschaftler vor den Folgen des Treibhauseffekts, des übermäßigen Ausstoßes an Treibhausgasen – „mit bescheidenem Erfolg.“ Der Natur sei dies im Übrigen wahrscheinlich egal – sie werde die Menschen überleben.
 
 
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